Agile now!

Dienstag, 07. September 2021 - Karen Heidl
Agilität motiviert, dynamisiert und ermächtigt Mitarbeitende. Penso sprach mit der HR-Expertin und Beraterin Brigitte Ehmann darüber, warum jetzt der beste Zeitpunkt ist, agile Methoden und Prinzipien in Unternehmen einzuführen und worauf es dabei ankommt.
Frau Ehmann, welches Startszenario können Sie empfehlen, um agile Methoden und agile Arbeitskultur in Unternehmen einzuführen?

Wichtig ist eine solide Bodenplatte, auf der man alles weitere gut verankern kann. Eine klare Haltung und die Überzeugung, dass agile Methoden sinnvoll sind, bilden dieses Fundament. HR-Abteilungen befinden sich derzeit – wie im Übrigen alle anderen Unternehmensbereiche – in einem Zustand der Ambidextrie: Sie müssen einerseits gleichzeitig das Kerngeschäft mit allen Routineaufgaben am Laufen halten und Prozesse digitalisieren und beschleunigen, andererseits sollen innovative Produkte und eine innovationsfördernde Unternehmenskultur entwickelt werden. Diese Situation schafft ein Spannungsverhältnis und auch Druck und somit viele Ansatzpunkte zur Einführung agiler Vorgehensweisen.

Ich empfehle, sich ein gutes Grundwissen über agile Vorgehensweisen anzueignen, um dann mit Blick auf Kundenbedürfnisse und Wirtschaftlichkeitsaspekte zu starten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in der HR-Welt Design Thinking eine sehr gern angenommene Methode ist, die zudem sehr kundenorientiert angelegt ist. Es geht um Kundenbedürfnisse und Schmerzpunkte, vorgesehen ist ein dynamischer Dialog mit Kunden bei der Entwicklung von Lösungen. Es kann sich dabei zum Beispiel um klassische HR-Themen wie Talent- oder Performance-Management-Systeme handeln. Auch bei solchen Systemen kann man agiles Vorgehen mit einem ersten Prototyp, Feedback, Anpassung und Iteration einüben. Wichtig ist auch, über diese Projekte zu berichten und ihre Entwicklungsgeschichte zu erzählen. So können in der Organisation agile Vorgehensweisen bekannt gemacht werden.

Gibt es bestimmte Methoden, die Sie zum Einstieg besonders empfehlen würden?

Ein weiteres Tool, das auf allen Ebenen der Organisationen gleichermassen positiv angenommen wird, ist das Business Model Canvas (siehe Kasten «Agile Methoden», Seite 52). Mit diesem Tool lassen sich Geschäftsmodelle mit kritischen Erfolgsfaktoren und den wichtigsten Kennzahlen schon in ein bis zwei Stunden entwickeln und testen. Für eine erste Diskussion müssen nicht immer umfangreiche Rechenwerke in Excel durchgearbeitet werden. Für viele Entscheidungen genügt bereits ein Entwurf mit diesem Canvas.

Für Projektmanagement nutze ich sehr gerne Scrum, eine Methode, die ja inzwischen schon weit verbreitet ist. Sie umfasst bestimmte Rollen innerhalb der Projektgruppe wie Product Owners, Scrum Master und Development Team, und bestimmte Rituale wie Daily Scrums – also tägliche, kurze Projektsitzungen, Entwicklungs-Sprints in bestimmten Abständen, Reviews usw. Diese Rituale können von Team zu Team variieren und richten sich letztlich nach den Anforderungen innerhalb des Projekts. Im HR genügen nach meiner Erfahrung ein bis zwei Sitzungen wöchentlich, anders als in einem IT-Team.

Wichtig im Zusammenhang mit Projektmanagement ist, dass Agilität nichts mit Ad-hoc-Aktivitäten zu tun hat, sondern auf strengen Regelwerken basiert, die mindestens so genau definiert sind wie klassische Methoden. Agile Projektteams agieren deshalb auch sehr fokussiert, allerdings müssen agile Vorgehensweisen konsequent eingesetzt werden.

Agile Methoden und Tools

Design Thinking: Methode zur Produktentwicklung, basierend auf Einholen von Kundenbedürfnissen, Prototypentwicklung mit minimaler Funktionalität (Minimal Viable Product MVP), Kundenfeedback, Prototypanpassung in fortschreitenden iterativen Entwicklungsschritten.

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Business Model Canvas BMC: Eine Canvas beschreibt eine in verschiedene Themenbereiche unterteilte Arbeitsfläche. Die BMC ist eine Variante, die von Alexander Osterwalder und Yves Pigneur im Buch «Business Model Generation» beschrieben wurde und heute als Standardtool in der Geschäftsmodellentwicklung gilt.

Mehr dazu (alle Bücher auch in deutscher Sprache erschienen)

Scrum ist eine agile Projektmanagementmethode, die bestimmte Rollen, Tools, Regeln und Rituale vorsieht, die vom Scrum Master moderiert werden. Sie wurde ursprünglich entwickelt, um lange Planungszeiträume für Produktentwicklungen in der Programmierung zu verkürzen, durch regelmässiges Kundenfeedback frühzeitig Produktmodifikationen in die Entwicklung aufzunehmen und damit Fehlentwicklungen möglichst zu vermeiden. Für das Entwicklungsteam wird mit dieser Methode u. a. eine tägliche Kommunikation untereinander und über Product Reviews innerhalb sogenannter Sprints (Entwicklungsabschnitte) auch mit Stakeholdern sowie eigenständige Projektarbeit angestrebt. Die ritualisierte Reflexion über die Projektarbeit selbst soll eine kontinuierliche Verbesserung fördern. Heute wird die Methode auch für Projekte ausserhalb der Programmierung eingesetzt.

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Das triviale Verständnis von Agilität ist ein völlig anderes als dasjenige, das anfänglich in Software-Entwicklungs-teams entwickelt wurde. Agile Methoden umfassen einen ganzen Kosmos von Tools, Vorgehensweisen und Ritualen. Denken Sie, dass es sinnvoll ist, wenn Agilität von HR-Abteilungen ins Unternehmen gebracht wird? Gibt es nicht operative Einheiten, wie eben die IT- oder die Sales-Abteilung, die eine höhere Affinität zu diesen Methoden hätten?

Ich finde HR-Abteilungen unerlässlich bei der Einführung von Agilität. HRM ist in den letzten Monaten so stark in den Fokus gerückt, dass ich es als historische Chance bezeichnen möchte, jetzt die Initiative zu ergreifen. Mir wird häufig gesagt, dass die tägliche Arbeitslast zu hoch sei und für diese Initiative schlicht die Zeit fehle. Ich kann darauf nur erwidern, dass es eine Frage der Prioritäten ist, worauf man die Arbeitszeit verwendet. Jetzt steht HR im Fokus mit Themen zur Arbeitszeitregelung, mit Regelungen zum Remote Working, neuen Anforderungen an den Officespace, betrieblichem Gesundheitsmanagement und vielen anderen Themen zum Arbeiten in der Zukunft. Dies sind alles Fragen, die sich hervorragend mit Design Thinking bearbeiten und pushen lassen. Die Chance, sich vom administrativen Alltagsgeschäft durch Digitalisierung weitgehend zu befreien und sich der Zukunftsgestaltung im Unternehmen zuzuwenden, war noch nie so günstig wie heute.

Es gibt allerdings auch viele kleine Tools – siehe beispielsweise workhacks.de –, die in der Personalarbeit extrem nützlich sind und sich mit älteren bewährten Modellen auch gut kombinieren lassen. Beispielsweise habe ich letztens in einem Coaching die Teamuhr von Tuckman in Kombination mit Führungstipps für die jeweiligen Phasen der Teamentwicklung in der heutigen Situation genutzt.

Unlängst habe ich auch mit einer Corona-Canvas gearbeitet, die sehr hilfreich ist, um die Situation nach Corona in einer 360-Grad-Perspektive zu analysieren (siehe hier). Man kann auch eigene Matrixen entwickeln, mit denen man regelmässig bestimmte Fragestellungen diskutiert. Diskussionen werden damit viel dynamischer und kreativer und führen schneller zu sichtbaren Ergebnissen.

Personaler arbeiten mit sehr vielen Anspruchsgruppen wie Führungskräften, Mitarbeitenden, dem Finanzbereich, der Unternehmenskommunikation und Arbeitnehmervertretungen – Tools, die Spass machen, helfen enorm, die verschiedenen Sichtweisen zusammenzuführen. Wenn man die Resultate dann auch noch gut visualisiert und öffentlich sichtbar macht, z.B. mit einem Kanban Board, schafft man zudem eine gute Transparenz der HR-Projekte für das gesamte Unternehmen. Das ist auch interne PR.

In Unternehmen verbergen sich in der Regel viele Informationen in Excel-Sheets, aber diese eignen sich eben nicht zur Kommunikation. Ein Canvas dagegen bringt komplexe Zusammenhänge sehr kompakt und eingängig rüber. Diese Sichtbarkeit ist auch ein Teil der agilen Wertekultur. Welche Kompetenz benötigen Mitarbeitende denn, um agile Kultur zu leben?

Ich beziehe mich gerne auf das Kompetenzrad, das soziale Kompetenz, Fachkompetenz und Methodenkompetenz unterscheidet. Ich bin davon überzeugt, dass soziale Kompetenz an Bedeutung gewonnen hat. Die emotionale Intelligenz spielt eine besonders wichtige Rolle bei der Führung von temporär existierenden Projektteams, in denen Teilnehmende aus verschiedenen Bereichen zusammenkommen und klassische hierarchische Strukturen aufgebrochen werden. Um solche Teams in kurzer Zeit in eine produktive Zusammenarbeit zu führen, ist soziale Kompetenz unabdingbar. Kommunikation, Transparenz, scheitern zu dürfen und gemeinsames Lernen sind agile Prinzipien, die einer gewissen Offenheit bedürfen. Wenn diese fehlt, fehlt es an Feedback und Anzeichen für Wertschätzung. Das wirkt sich langfristig negativ auf die Zusammenarbeit aus.

Methodenkompetenz steht an zweiter Stelle. Eine Grundkenntnis der wichtigsten agilen Methoden gehört quasi zur Bodenplatte. Die fachlichen Kompetenzen rücken mehr in den Hintergrund. Tiefes Fachwissen muss ständig erneuert werden, weshalb die Bereitschaft zu lernen, also Neugier und Offenheit, wichtiger werden als tiefe fachliche Kompetenz.

Kann die Zurückstellung der fachlichen Kompetenz in einigen Unternehmenskulturen nicht als Provokation aufgefasst werden? Ich denke an die vielen Unternehmen, deren Patente auf sehr tiefes Fachwissen zurückgehen.

Heute leben wir in einer Zeit, in der dieses Fachwissen immer schneller verfällt und erneuert werden muss, weil sich Umweltfaktoren, Gesetzeslagen, Technologien verändern. Das stellt viele Hersteller – ich denke zum Beispiel an die Automobilbranche – vor grosse Herausforderungen. Dann sprechen wir sehr schnell von Reskilling, Upskilling oder – neudeutsch – Outskilling. Es stellt sich dann die Frage, wieweit Umschulungen innerhalb der Unternehmenskultur überhaupt möglich sind. Wenn komplett neue Kompetenzen notwendig werden, wird es schwierig, alle Mitarbeitenden mitzunehmen.

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Konzepte des agilen Arbeitens, die in dieser Vielfalt von Methoden Orientierung geben?

Beispielsweise ist die Iteration ein Basiskonzept agilen Arbeitens, zusammen mit dem Lean-Startup-Ansatz und der Idee des Minimal Viable Product – des Produkts mit den minimalen Produktanforderungen. Dies folgt generell einer Produktentwicklungsdynamik, die auch vom Wettbewerb erzwungen wird. Insofern ist es fundamental wichtig, dass sich dieses Denken bei den Führungskräften eines Unternehmens verankert, und zwar kombiniert mit agilen Prinzipien wie Selbstorganisation, Ermächtigung, Loslassen, kontinuierlicher Verbesserung oder schnellem Scheitern.

Man darf im Unternehmen nicht aufhören zu fragen, was den Mehrwert für das Unternehmen und für den Kunden bringt. Das weiss ich aus eigener Erfahrung aus langjähriger HR-Verantwortung in einem erfolgreichen Unternehmen. Diese Kundenorientierung gilt auch für HR-Abteilungen. HR-Management ist Business, nicht Selbstzweck. Agile Konzepte und Prinzipien unterstützen diese Orientierung über das gesamte Unternehmen.

Verändert sich die Rolle agiler HR-Teams oder verändern sich nur Arbeitsweisen?

Dies ist sehr abhängig von der Grösse des Unternehmens und der HR-Abteilung selbst sowie den Zielsetzungen für die HR-Abteilungen. Ausgehend von einer klassischen HR-Abteilung, die alle Funktionen ausfüllt – also Administration, Personalentwicklung, Talententwicklung – nehme ich in agilen Teams mehr Kundenzentrierung, mehr Dynamik und schliesslich mehr Freude an der Arbeit wahr. Die Rolle des Enablers, Facilitators und Coachs wird bewusster gelebt. Es wird mehr Feedback zur eigenen Arbeit eingeholt und es werden grössere Fortschritte gemacht. Das beflügelt die Motivation und das Selbstbewusstsein, mit dem schliesslich das Business unterstützt wird.

Dies ist ein grosses Bedürfnis vieler HR-Abteilungen, mit denen ich Kontakt habe: die Arbeitslast aus administrativen Beanspruchungen oder Governance-Themen abzuschütteln, um in der täglichen Arbeit mehr Einfluss auf Entwicklungsthemen zu nehmen.

Eine gute Dynamik erzeugen auch gut durchmischte Teams. Diversität erzeugt Reibung, die wiederum Veränderungsenergie freisetzt. Deshalb ist dieses Thema stark im Fokus. Dabei geht es nicht nur um die Genderdiversität.

Welche Missverständnisse über Agilität würden Sie gerne sehr schnell ausräumen?

Ein Irrglaube ist, dass Führung in agilen Unternehmenskulturen einfacher werde. Stattdessen wird sie anders und anspruchsvoller, nämlich situativer und personenbezogener. Man muss als Führungskraft sicher einschätzen können, wie selbständig Menschen arbeiten können.

Unklar ist mir auch, warum manche Geschäftsführungen denken, dass agile Methoden innerhalb der Geschäftsführung weniger geeignet seien. Dieses Abblocken des Führungsgremiums ist für die Unternehmenskultur nicht förderlich.

Ein weiterer Irrglaube ist die Behauptung, dass Agilität nur ein Hype sei, der sich wieder abnutzen würde.

Was würden Sie HR-Managern zum agile Mindset gerne mit auf den Weg geben?

Seid mutig, fokussiert euch und habt Freude! Agiles Mindset schafft einen Business-Mehrwert und bereichert das Arbeitsleben. Es empowert Menschen. Jeder Personalleiter hat jetzt eine hervorragende Ausgangslage, die Situation für einen grossen Schritt in die Zukunft zu nutzen.

Zur Person

Brigitte Ehmann hat nach ihrem Studium der Betriebswirtschaft 22 Jahre im Human-
Resources-Management in internationalen Unternehmen wie Mövenpick, Novartis und ProSiebenSat.1 gearbeitet und sich 2009 als systemischer Business Coach ausbilden lassen. Die Hobby-Triathletin ist heute selbständig als Coach, Trainerin, Dozentin und Moderatorin. In ihrem Podcast people@work spricht sie mit Führungskräften und Gästen aus Wirtschaft und Wissenschaft, u. a. über ihren Lebens- und Karriereweg sowie über aktuelle Themen wie agiles Arbeiten, Remote Work, Digital Leadership, disruptiven Wandel und Kulturveränderungen. 2019 ist ihr Buch «Agile Methoden für Personaler – So gelingt der Wandel in die agile Unternehmenskultur» erschienen.

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