Die Sanduhr läuft langsamer – zulasten der Sozialhilfe

Donnerstag, 01. Dezember 2022 - Andreas Dummermuth
Die Weiterentwicklung der IV wird die Verfahrensdauer in der Invalidenversicherung verlängern. Dies als Folge der digitalen Zufallsvergabe von Gutachteraufträgen und der Verpflichtung zu Tonaufnahmen bei Begutachtungen. In vielen Fällen wird die Sozialhilfe für die Übergangsfinanzierung bis zum Rentenentscheid aufkommen müssen.

Von der Invalidenversicherung (IV) erhalten jährlich 450000 Personen Leistungen. Jedes Jahr werden 2 Mrd. Franken in Form individueller Leistungen investiert, weitere 5.3 Milliarden tragen jährlich in Form von IV-Renten zur individuellen Existenzsicherung bei. Insgesamt betrugen die Ausgaben der IV im Jahr 2020 9.6 Mrd. Franken. Die Entscheide der IV-Stellen lösen direkt oder indirekt weitere Milliarden bei der 2. Säule und den Ergänzungsleistungen aus. Kurz: Kein Ausflugsboot, sondern ein Dampfer.

Wenn es sich um so viel Geld und – noch wichtiger – so viele Menschen mit gesundheitlichen, arbeitsmarktlichen und oft auch persönlichen Problemstellungen handelt, sind Entscheide oft heikel. Die Entscheidpraxis der IV-Stellen wird in der Öffentlichkeit immer wieder kritisiert. Als Betriebe des öffentlichen Rechts sind es sich die  Sozialversicherungsanstalten gewohnt, dass Betroffene und ihre Vertretungen nicht immer mit den Entscheiden einverstanden sind. Allein im Jahr 2021 hat das Bundesgericht über 600 IV-Fälle geprüft. Rechtskontrolle ist richtig und wichtig.

Das neue Verfahrensrecht und seine Nebenwirkungen

Das neue Bundesrecht bestimmt das IV-Verfahren und auch die Verfahrensdauer. Ganz konkret ist zu befürchten, dass infolge der am 1. Januar 2022 in Kraft gesetzten Weiterentwicklung der IV (WEIV) die durchschnittliche Dauer der IV-Verfahren noch länger wird. Vor allem bei Versicherten, die nicht erwerbstätig oder selbständig erwerbstätig sind und über keine Krankentaggeldversicherung verfügen, droht eine Übergangsfinanzierung durch die wirtschaftliche Sozialhilfe.

Nach jeder Anmeldung für eine Sozialversicherungsleistung erfolgt ein Abklärungsverfahren. Der Bundesgesetzgeber hat auf den 1. Januar 2022 die Partizipationsrechte der Versicherten gestärkt, die Aufgaben der Durchführungsstellen auf Stufe Bundesgesetz sehr detailliert vorgeschrieben und dabei insbesondere die medizinischen Begutachtungen
einheitlich geregelt. Das heisst konkret: Für jede IV-Leistung ist ein Gesundheitsschaden eine Leistungsvoraussetzung. Nun gibt es medizinisch eindeutige Schäden (z.B. Gendefekte), aber auch medizinisch nicht eindeutige Schäden (im Fachjargon z.B. pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder). In solchen Fällen empfiehlt der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) der IV-Stelle oft ein externes Gutachten durch eine spezialisierte Fachärztin. Der RAD ist dabei in seinem medizinischen Sachentscheid im Einzelfall von der IV-Stelle unabhängig. Es besteht kein Weisungsrecht der IV-Stelle gegenüber dem RAD.

In einem ersten Schritt muss dann in einem detailliert geregelten Einigungsverfahren zwischen der versicherten Person und der IV-Stelle eine einvernehmliche Bestimmung der sachverständigen Fachärztin erreicht werden. Sobald aber eine bi- oder polydisziplinäre Abklärung angezeigt ist, muss die Zuteilung strikt über eine digitale Plattform erfolgen, die die Gutachten nach dem Zufallsprinzip an Fachärzte verteilt. Ist die gesundheitliche Situation unklar und muss z.B. eine psychiatrische und zudem eine orthopädische Untersuchung vorgenommen werden, spricht man von einer bidisziplinären Untersuchung. Müssen eine oder sogar mehrere weitere Begutachtende zugezogen werden, spricht man von einem polydisziplinären Gutachten.

Ab dem Moment des Entscheids, dass eine bi- oder polydisziplinäre Begutachtung durchzuführen ist, verliert die IV-Stelle die Verfahrenshoheit. Die IV-Stelle hat keinerlei Einfluss auf die Auswahl der Sachverständigen, aber eben auch keinerlei Einfluss auf die Verfahrensdauer und auf die Kosten der Begutachtung. Sie muss warten – wie auch die versicherte Person. Monate und manchmal sogar Jahre. Das ist der erste Preis dieser Weichenstellung. Dieser Mechanismus wird durch den Fakt verstärkt, dass auch bei den Spezialärzten ein Fachkräftemangel herrscht. Psychiatrische Kliniken finden keine Fachärztinnen, Kantone beklagen, dass zu wenig ambulante psychiatrische Betreuung gewährleistet sei, auch die RAD haben Mühe, Fachpersonal zu finden, und Gutachter sind rar.

Es ist wichtig, dass man nach einigen Jahren eine Auswertung der Verfahrensdauer macht und dabei insbesondere die externen und eben nicht durch die IV-Stellen beeinflussbaren Wartezeiten und Gutachterkosten auswertet. Versicherte können aber nicht auf Evaluationen hoffen, sie benötigen eine rasche Existenzsicherung. Da mangels Gutachten noch kein IV-Rentenentscheid vorliegen kann, fliesst auch keine Rente der 2. Säule und auch die EL-Stelle darf keine Ergänzungsleistungen zusprechen. Der Gang zum Sozialamt ist oft der einzige Ausweg. Das Sozialamt wird gemäss Sozialhilfegesetz zahlen müssen: Monate oder sogar Jahre.

Droht ein Gutachterengpass?

Parallel dazu hat der Bundesrat am 24. November 2021 eine unabhängige, ausserparlamentarische Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung geschaffen. Dies ist ein wichtiger Schritt: Nicht nur die Versicherten, sondern auch die Versicherungsträger sind auf qualitativ einwandfreie Gutachten angewiesen. Werden sich nun massiv mehr Gutachterinnen und Gutachter melden, um für die Sozialversicherungen Expertisen zu machen? Das darf bezweifelt werden. Ein Grund könnte sein, dass der Gesetzgeber neu von jeder ärztlichen Begutachtung eine Tonaufnahme verlangt. Diese muss bei der IV-Stelle hinterlegt werden und kann an die Versicherten, ihre Anwältinnen und die Gerichte ediert werden. Allenfalls über lange Jahre hinaus müssen diese Aufnahmen abrufbereit sein. Die Internetseite eahviv.ch dokumentiert dieses Verfahren transparent. Neu kann man Tonaufnahmen verschiedener Gutachter und aus verschiedenen Zeiten gegeneinander laufen lassen! Zudem werden die IV-Stellen neu Listen über beauftragte Sachverständige veröffentlichen, die pro namentlich genannten Gutachter die attestierten Arbeitsunfähigkeiten in jedem Einzelfall sowie die Gesamtvergütungen ausweisen. Für die Juristen bei den Gerichten, den Sozialversicherungen und den spezialisierten Anwaltskanzleien ist sicher genug Material vorhanden. Monate und Jahre an Verfahrensdauer sind vorprogrammiert.

Berufliche Eingliederung eilt

Die drohende Verlangsamung des IV-Verfahrens ist gegenläufig zu den Interessen der beruflichen Wiedereingliederung. Der «point of no return» bei einer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt ist schnell erreicht. Das erste Kernziel der IV – die berufliche Eingliederung – wird durch überlange Verfahrensdauern gefährdet. Sicher, in vielen Fällen können berufliche Massnahmen auch ohne externe medizinische Gutachten oder gar bi- und polydisziplinäre Gutachten aufgegleist werden. Sobald aber der RAD für eine externe Begutachtung durch eine Fachärztin votiert, wird es für die IV-Stellen schwierig, ein speditives Abklärungsverfahren sicherzustellen. Völlig unmöglich wird es, wenn die Zufallsvergabe zur Anwendung gelangt. Ab diesem Moment kann die IV-Stelle nur noch warten.

Bei Long Covid drohen langwierige Verfahren

Das ist leider kein theoretisches Problem. Nehmen wir ein aktuelles Thema: Bei den IV-Stellen wurden im Jahr 2021 knapp 1800 Anmeldungen von Versicherten eingereicht, die an direkten gesundheitlichen Langzeitschäden nach einer Covid-19-Erkrankung leiden. Es ist davon auszugehen, dass bei etlichen von ihnen eine bi- oder polydisziplinäre Begutachtung angezeigt ist. Denn der RAD könnte unklare Beschwerdebilder vermuten, die begutachtet werden müssen. Die Versicherten werden in den digitalen Warteschleifen vor den Gutachtern landen. Dann wird es bald in den Medien heissen, dass diese Menschen von der IV in Ungewissheit gelassen werden. Und ebenfalls anzunehmen ist, dass der Sozialdienst der Wohngemeinde die Existenzsicherung anpacken darf.

Gut gemeint – gut gemacht?

Man sät unbestritten hohe Werte wie Transparenz, Chancengleichheit im Verfahren und Qualität der Gutachten und erntet dann vielleicht auch Bürokratie, Gutachtermangel, überlange Verfahren und eine Übergangsfinanzierung durch die Sozialhilfe als Standardfall. Da der Dampfer recht gross und bedeutend ist, können wir auf begleitende Evaluationen hoffen, die eine Steuerung des Kurses ermöglichen. Nach der Revision ist vor der Revision des Kurses jedes Dampfers auf rauer See.

Take Aways

  • Als Folge der Zufallsvergabe von Gutachteraufträgen und der Verpflichtung zu Tonaufnahmen bei Begutachtungen wird sich die Verfahrensdauer in der Invalidenversicherung verlängern.
  • Wo eine Krankentaggeldversicherung fehlt, wird häufig die Sozialhilfe für die Übergangsfinanzierung bis zum definitiven Rentenentscheid aufkommen müssen.
  • Für die Eingliederung sind lange Verfahren hinderlich. Je rascher sie erfolgt, desto grösser sind die Erfolgsaussichten.

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