Psychische Belastungen am Arbeitsplatz: Einflussfaktoren und Auswege

Freitag, 11. September 2020 - Thomas Ihde
Absenzen aufgrund psychischer Erkrankungen sind in der Regel langwierig. Das Erkennen und Ansprechen früher Anzeichen kann präventiv wirken – wären psychische Störungen nicht gesellschaft­lich stigmatisiert. Wie können Unternehmen Einfluss nehmen?

Langsam setzt sich bei uns die Erkenntnis durch, dass psychische Belastungen am Arbeitsplatz hochrelevant sind. Taggeldversicherer schlagen Alarm, Arbeitgeber fühlen sich durch das Thema stark gefordert. Stress ist für Arbeitnehmende ein omnipräsentes Thema.

Psychische Erkrankungen haben trotz dieser aktu­ellen Relevanz nicht signifikant zugenommen. Bei schweren psychischen Erkrankungen gab es in den letzten hundert Jahren keine Veränderung. Ihre Häufigkeit ist auch in allen Kulturen in etwa gleich. Auch bei den sogenannten stressbezogenen Er­krankungen ist die Zunahme mit 9 bis 76 Prozent tiefer, als allgemein angenommen. Der Gesun­dungsprozess verläuft bei psychischen Erkrankun­gen aber sehr langsam. Ist die Krankheit bereits fortgeschritten und die Depression beispielsweise ausgeprägt, fehlen Mitarbeitende über Monate an ihrem Arbeitsplatz. Beim Wiedereinstieg kann das Pensum nur langsam gesteigert werden, was sich über Monate ziehen kann. Möglichkeiten zur Be­schleunigung der Gesundung gibt es leider nur wenige. Das Tempo einer Depressionsbehandlung heute unterscheidet sich nicht wesentlich von dem vor 25 Jahren. Anders ist dies beispielsweise bei orthopädischen Eingriffen. Nach dem Einsetzen eines künstlichen Knies steht man am Folgetag bereits wieder auf den Füssen. Vor 25 Jahren wartete man damit noch sieben bis zehn Tage. Dies erklärt den relativ stark erhöhten Anteil von Fehltagen we­gen psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz im Vergleich mit anderen gesundheitlich bedingten Absenzen.

Forschung zu Einflussfaktoren psychischer Belastungen

Während bei uns das Thema psychische Gesund­heit am Arbeitsplatz noch relativ neu ist, befasst sich Kanada – als weltweites einziges Land – seit Jahrzehnten damit. Vor 30 Jahren organsierte die Simon Fraser University in Vancouver einen runden Tisch mit Arbeitspsychologen und -medizinern, Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Gewerkschaften und der Regierung. Sie verglichen Firmen mit hohen Fehltagen aufgrund psychischer Probleme mit Firmen mit tiefen Fehltagen, und zwar jeweils innerhalb derselben Branche. Die Forscher fanden so 13 Faktoren, die die psychische Gesundheit beeinflussen. Alle fünf Jahre wiederholten sie die Untersuchungen. Erstaunlich ist, dass sich die Faktoren über die 30 Jahre kaum verän­derten. Die viel beschworene Digitalisierung, die im kanadi­schen British Columbia früh einsetzte, bildete sich nur sehr begrenzt ab.

Auf Platz 5 rangierte und rangiert immer noch die so­genannte Passung. Wie der Arbeitsplatz mit seinen Anfor­derungen zu Stärken und Schwächen eines Menschen passt, entscheidet über seine gesundheitliche Prognose. Ein Beispiel: Der Buchhalter, der eher perfektionistisch ist und Fakten liebt, fühlt sich sehr wohl am Arbeitsplatz. Mit der Beförderung ändert sich sein Anforderungsprofil. Für genaue Zahlen sind plötzlich andere verantwortlich, er ist für das weniger genaue grosse Ganze zuständig. Er muss neu ein Team führen, weiche Führungseigenschaften sind aber nicht seine Stärke. Dann kommt der Tag, an dem er in der Geschäftsleitung präsentieren soll. Bereits den ganzen Sonntag über ist ihm nur noch übel. Die Kinder streiten mit ihm, weil er so abwesend wirkt. Morgens um drei ist er be­reits wach, innerlich steht er bereits vor seiner Powerpoint­-Präsentation. Mit weichen Knie und trockenem Mund. Nach sechs Monaten fällt er plötzlich aus. Das angebliche Magengeschwür entpuppt sich schliesslich als Erschöp­fungsdepression.

Auf Rang 2 bis 4 folgen Einflussfaktoren, die mit dem Team- und Betriebsklima zu tun haben, also Verlässlichkeit oder Transparenz. Gemeinsam ist diesen Faktoren, dass es um Angst geht. Angst am Arbeitsplatz ist toxisch für die Gesundheit – dazu ein Beispiel: Muss ich mir ständig den eigenen Rücken decken? Kann ich mich darauf verlassen, dass meine Chefin ihre Meinung auch aufrechterhält, wenn ihre Vorgesetzte dabei ist? Falls nicht, besteht für mich ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.

Stigmatisierung behindert Prävention

Die Nummer 1 auf der kanadischen Rangliste? Diese hat vor 30 Jahren alle erstaunt, was sie noch heute tut. Die Kanadier formulieren dies etwas kompliziert mit «inneren und äusseren Barrieren im Zugang zu Hilfe». Primär geht es um die inneren Barrieren und gemeint ist damit etwas, das wir heute Stigma nennen. Psychische Krankheiten sind immer noch nur sehr begrenzt akzeptiert; es sind auch im Jahr 2020 noch keine «richtigen» Krankheiten. Zur Illustration folgendes Szenario: Wir merken, dass wir jeden Morgen schon um drei Uhr wach sind, uns nur noch schlecht erholen können, am Wochen­ende Arbeitsthemen im Kopf drehen und unsere Konzentration und Effizienz sinken. Und jetzt pas­siert etwas mit uns: Wir gehen nicht einfach zur Hausärztin, stattdessen versuchen wir verzweifelt, «den Kopf über Wasser zu halten», nehmen uns vor, uns einfach mehr zusammenzunehmen. Wir erle­ben uns nicht als krank, sondern als schwach, oder gar noch schlimmer, als charakterschwach. Ver­zweifelt versuchen wir unsere Schwierigkeiten zu verbergen; wir fürchten die Meinung anderer, insbe­sondere unserer Vorgesetzten. Die Hauptangst ist, dass der Arbeitgeber uns fallen lässt und kündigt oder uns auf ein Abstellgleis ohne Herausforderun­gen stellt. 

Studien, die diese Stigmatisierung untersuchen, fra­gen beispielsweise nach dem Wunsch nach sozialer Distanz: «Würden Sie Ihre Wohnung jemandem untervermieten, der eine Schizophrenie hat?» Oder: «Würden Sie mit jemandem mit einer Borderline-Stö­rung zusammenarbeiten?» Oder es wird die «Disclo­sure»-(Offenlegungs-)Bereitschaft untersucht, mit Fragen wie: «Wären Sie psychisch krank, würden Sie dies Ihren Freunden, Kindern im Teenager-Alter, Bü­rokolleginnen oder Vorgesetzten mitteilen?» Die Er­hebungen zeigen, dass im Hinblick auf den Arbeits­platz die grössten Vorbehalte bestehen.

 

Beobachtungen

Hinweise im Arbeitsumfeld auf mögliche psychische Belastungen bei auffälligen Veränderungen ...

- der Arbeitsleistung, zum Beispiel Leistungs­schwankungen oder -abfall, Kurzabsenzen oder Unpünktlichkeit, Vermeidung von Aufgaben, man­gelnde Ausdauer, erhöhte Fehlerquote;
- des Sozialverhaltens, zum Beispiel Ängstlichkeit, Pessimismus, Kontaktvermeidung, geringe Empfänglichkeit für Kritik, negative Äusserungen, Misstrauen;
- des Befindens, zum Beispiel Klagen über Nervosität, Erschöpfung, Schlaflosigkeit oder körperliche Beschwerden;
- des Auftretens, zum Beispiel Vernachlässigung der Kleidung oder der Körperpflege, Führen von Selbst­gesprächen, Zerstreutheit, Fahrigkeit;
- der Stimmung, zum Beispiel schwankende Gemüts­lage, angespannte oder gereizte Grundstimmung, Niedergeschlagenheit.

Schleichender Prozess erschwert Früherkennung

Psychische Krankheiten sind in der Regel viel ein­facher zu behandeln, wenn sie früh erkannt werden und sich Betroffene früh Hilfe holen. Leider ist aber die Früherkennung nicht ganz einfach. Zeigt sich eine Leistungseinbusse oder Verhaltensverände­rung am Arbeitsplatz, ist der Prozess meist schon recht fortgeschritten. Zuerst merkt die Familie, dass etwas nicht mehr stimmt, dann stutzen gute Freunde, dann merken vielleicht Vereinskollegen et­was – die Arbeitsleistung ist aber immer noch nor­mal. Etwa zeitgleich zum Kioskverkäufer, bei dem sich die Person täglich die Zeitung und den Kaffee kauft, werden Teamkolleginnen darauf aufmerk­sam, dass etwas nicht stimmt. Der Mitarbeiter hat plötzlich Tagesabsenzen und fehlt in der Pause, meist aus einem Pseudogrund. Was ist passiert? Jede Nacht wacht der Mitarbeiter um drei Uhr auf und dann beginnt eine Tortur. Er denkt, dass es ihm so schlecht geht, dass er unmöglich arbeiten gehen kann und sich krankmelden muss. Dann kommt die Scham, die Angst vor dem, was andere von ihm denken könnten. Er sagt sich, dass er einfach ge­hen muss. So geht es hin und her, bis kurz vor Arbeitsbeginn. Meistens siegt der Arbeitswille. Die­ser Prozess ist allerdings sehr erschöpfend. Bereits morgens um sieben hat der Mitarbeiter das Gefühl, schon einen ganzen Tag gearbeitet zu haben. Der Wechsel in die Arbeitsrolle hilft; er kann sich darin etwas verstecken. Schwierig sind aber Pausen. In der Pause ist das Team nicht mehr in der reinen Be­rufsrolle, es geht dann um Halbprivates, was bei hoher psychischer Belastung schwieriger ist.

Manchmal gewinnt im Morgengrauen auch die in­nere Stimme, die nicht zur Arbeit gehen will, in der Folge kommt es zu einer Absenz. Bereits am nächs­ten Tag ist der Mitarbeiter wieder am Arbeitsplatz. Das schlechte Gewissen führt dazu, dass er sich besondere Mühe gibt. Dies irritiert mit der Zeit Teammitglieder und Vorgesetzte. Sie können das Ganze nicht einordnen, es setzt eine Zerrüttung des Arbeitsverhältnisses ein (siehe auch Kasten «Beobachtungen»).

Leider gibt es bis heute keine objektiven Parameter, die die psychische Verfassung beurteilen können. Chronische Stresshormone wie Cortisol oder auch soziale Stressschutzhormone wie Oxytoxin, Herz­ratenvariabilität oder Schlafstudien können Hin­weise geben, sind jedoch viel zu wenig verlässlich. Unsere Psyche ist einfach sehr komplex. Der psy­chische Energieverbrauch und auch die Energiere­generation lassen sich zwar messen, allerdings vor­erst nur in Studien. Psychiater achten auf Konzent­rationsfähigkeit, Gefühlsregulationsfähigkeit, Reali­tätsüberprüfung. Sie sind aber vor allem auf Selbstauskünfte angewiesen. Stigmatisierung blo­ckiert Selbstauskünfte.

Prävention und Stigmareduktion im Unternehmen

Es sind also allgemeinere Massnahmen erforder­lich, beispielsweise auf Ebene der Unternehmens­kultur. Exemplarisch ist hier das Beispiel eines grossen britischen Versicherungskonzerns. Bereits seit Jahren gab es ein Netzwerk von Mitarbeiten­den, die sich des Themas psychische Gesundheit annahmen und Mittagsanlässe organisierten. Das Netzwerk konnte die Direktion überzeugen, dass pro Team je ein Mitarbeiter einen Erstehilfekurs für psychische Gesundheit absolvieren sollte. Dieser Kurs heisst in der Schweiz ensa-Kurs. Die Kurse haben den Zweck, Wissen rund um psychische Ge­sundheit zu vermitteln und Teilnehmenden Hilfe­stellung zu geben, damit sie auf jemanden, der psy­chisch belastet ist, zugehen können. ensa-Kurse führen vor allem auch zu einer Stigmareduktion.

Man muss sich damit befassen, wie es sich wohl anfühlen könnte, depressiv zu sein oder unter Zwängen zu leiden. Teilnehmende vollziehen also eine Art Perspektivenwechsel. Als weitere Mass­nahme führte der Versicherungskonzern Lotsen ein. Mitarbeitende, die selbst in der Vergangenheit psychisch erkrankt und wieder gesundet waren, stellten sich zur Verfügung, erkrankte Mitarbei­tende als eine Art Götti (Paten oder Peers) im Wie­dereinstieg zu begleiten. Der CEO berichtete in sei­nem Jahresendbrief darüber, wie er im betreffen­den Jahr unter der Doppelbelastung litt, eine an Alzheimer erkrankte Mutter zu haben und den be­trieblichen Anforderungen zu genügen, wie er Schlafstörungen entwickelte und sich Hilfe suchte. In seiner Vorbildrolle zeigte er, dass es erlaubt ist, über psychische Probleme zu sprechen, und dass es wichtig ist, Frühwarnzeichen, die nur die Betrof­fenen selbst wahrnehmen können, ernst zu neh­men und sich Hilfe zu suchen.

 

Take-Aways

  • Das Gesundungstempo bei psychischen Krankheiten hat sich in den letzten 25 Jahren nicht wesentlich verändert – an­ders als bei vielen anderen Behandlungen.
  • Die wichtigsten Einflussfaktoren für psychische Belastung am Arbeitsplatz sind Passung der Arbeit mit den Stärken und Schwächen des Mitarbeitenden, Team- und Betriebsklima - Verlässlich­keit, Transparenz, Angst - und die Stigma­tisierung psychischer Belastungen.
  • Früherkennung ist nur schwer möglich. Veränderungen, die für Arbeitskolleginnen sichtbar werden, treten in einer relativ späten Phase auf.
  • Eine Unternehmenskultur, in der psychi­sche Belastungen enttabuisiert werden, trägt dazu bei, Betroffenen in einer frühen Phase Hilfestellungen zu geben.

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