Altersstereotype sind Diversitätskiller

Donnerstag, 04. September 2025 - Karen Heidl
Die Nationale Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement stellte in diesem Jahr Altersdiversität in den Mittelpunkt. Diskutiert wurde, wie Unternehmen durch Werteorientierung, lebensphasenbezogene Modelle und eine offene Kultur Gesundheit und Leistungsfähigkeit stärken können.

Eric Bürki, Geschäftsführer der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, entführte zum Auftakt der Tagung die Teilnehmenden gedanklich in einen botanischen Garten, in dem Pflanzen unterschiedlichen Alters und Wachstumsstadiums nebeneinander bestehen. Vielfalt allein, so seine Botschaft, reiche allerdings nicht aus. Entscheidend sei Pflege dieser Diversität. Eine gute Unternehmenskultur führe zu weniger Stress, geringeren Belastungen und einem geringeren Risiko von Ausfällen: «Es braucht eine gute Pflege, und diese Pflege ist Aufgabe von HR, Gesundheitsmanagement und Führungskräften», sagte Bürki. Der vielzitierte Generationenkonflikt sei eher ein Mythos. Die wahren Herausforderungen liegen, so Bürki, an anderer Stelle. 

Der Generationenmythos auf dem Prüfstand

Die Annahme, dass sich Menschen aufgrund ihres Geburtsjahrgangs grundlegend unterscheiden, wurde von den Referentinnen und Referenten in Frage gestellt, wenn auch Face-to-Face-Diskussionen zwischen den Besuchern in den Pausen eher die Generationenstereotypen bestätigten.  

Charta Arbeitsmarkt 45+ 

Die Charta Arbeitsmarkt 45+ der Berner Fachhochschule fördert bessere Rahmenbedingungen für ältere Arbeitnehmende. Sie setzt auf flexibles Rentenalter, Weiterbildung, Gesundheitsförderung sowie eine diversitätsorientierte Unternehmenskultur. Ziel ist es, das Potenzial erfahrener Mitarbeitender zu sichern und den Arbeitsmarkt nachhaltig zu stärken. Unternehmen und Einzelpersonen können die Charta online unterzeichnen. Die Website bietet zudem Informationen zu erfolgreichen Praxisbeispielen, Impulse für Unternehmen und weiterführende Angebote rund um den Arbeitsmarkt 45+. 

Zur Charta

Anja Mücke, Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, machte deutlich, dass Schlagzeilen wie «Jüngere beurteilen Bewerber über 50 deutlich schlechter» zwar die gewünschte Aufmerksamkeit erzeugen, aber falsche Bilder verstärken. Entscheidend sei nicht das Alter an sich, sondern wie Führungskräfte wahrnehmen, bewerten und entscheiden. «Mein eigenes Alter ist nicht relevant, aber das Alter der Mitarbeitenden schon», fasste sie die typische Haltung zusammen. 

Besonders problematisch seien die Stereotype, die mit Altersbildern verbunden würden. Negativ heisse es oft, ältere Mitarbeitende seien weniger lernfähig oder weniger flexibel, positiv werde ihnen Loyalität oder Erfahrung zugeschrieben. «Ein Stereotyp bleibt aber ein Stereotyp», so Mücke, egal ob dies nun positiv oder negativ wertet. Gefährlich sei, dass solche Zuschreibungen eine selbsterfüllende Wirkung entfalten könnten. Wer signalisiert bekomme, dass er nicht mehr lernfähig sei, traue sich Weiterbildungen irgendwann nicht mehr zu.

Mücke warnte davor, negative Altersstereotype wie «Ältere sind weniger flexibel» durch positive Klischees zu ersetzen, etwa durch Zuschreibungen wie «Über 50-Jährige sind besonders sozialkompetent»

Diese verstellten den Blick auf die individuelle Vielfalt. Viel wichtiger sei es, in einen echten Dialog mit den Mitarbeitenden zu treten, zuzuhören und die konkreten Bedürfnisse ernst zu nehmen. «Wissen, wo die Mitarbeitenden stehen, miteinander sprechen, Interesse zeigen – das ist keine Rocket Science, wird aber oft zu wenig gemacht», erklärte Anja Mücke.

Auch François Höpflinger, Alters- und Generationenforscher, relativierte gängige Vorstellungen. Generationenfragen bewegten sich stets im Spannungsfeld von Kontinuität und Innovation. Er erinnerte daran, dass sich schon Sokrates über die Jugend beklagt habe.  

Studie «Länger arbeiten – geben Unternehmen eine Chance?» von Swiss Life

Die Studie untersucht, wie Schweizer Arbeitgeber mit älteren Mitarbeitenden umgehen und welche Rahmenbedingungen für eine längere Erwerbstätigkeit nötig sind. Sie zeigt, dass viele Betriebe eine Weiterarbeit über das Rentenalter für möglich halten, aber nur wenige konkrete Massnahmen fördern. Analysiert werden Beschäftigungsquoten, internationale Vergleiche sowie Hindernisse und Chancen für eine personalpolitische Öffnung gegenüber 55+. Die Ergebnisse geben Orientierung für Unternehmen, Politik und Gesellschaft im Umgang mit dem demografischen Wandel.

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«Zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessene Wertunterschiede sind aber nicht in Stein gemeisselt. Sie verändern sich mit dem Älterwerden der Personen.» Mit zunehmendem Alter nehme etwa die Bedeutung von Stabilität und Verantwortung zu, während hedonistische Orientierungen in den Hintergrund rückten. Empirisch seien die Wertunterschiede zwischen Arm und Reich oder zwischen Stadt und Land relevanter als jene zwischen Generationen.  

Anina Hille von der Hochschule Luzern erinnerte daran, dass unsere Vorstellungen vom Ruhestand soziale Konstrukte der letzten 150 Jahre seien. Heute, da die Lebenserwartung stetig steige, müsse Arbeit neu gedacht werden. «Wer heute 60 wird, hat noch viele Jahre in guter körperlicher und geistiger Verfassung vor sich.» Damit verlören starre Grenzen zwischen Ausbildung, Erwerbsleben und Pension an Relevanz. Vereinfachende Generationenbilder helfen bei der Neuordnung des Berufslebens nicht weiter. 

Lebensphasen und Werte statt Schubladen 

Statt Generationen als Erklärungsmuster zu bemühen, plädierten mehrere Rednerinnen für den Blick auf Lebensphasen und Werte.

Valentina Wetter, CEO des gleichnamigen Familienunternehmens spezialisiert auf industrielle Bau- und Immobilienprojekte mit 160 Mitarbeitenden in der dritten Generation, formulierte es klar: «Lebensphasen zählen, nicht Geburtsjahre.» Ein dreissigjähriger Vater habe andere Bedürfnisse als ein gleichaltriger Single am Beginn einer Führungskarriere. Ebenso könne eine sechzigjährige Führungskraft ähnliche Anforderungen an Flexibilität haben wie ein junger Elternteil. Entscheidend sei, welche Lebenssituation vorliege und welche Werte im Vordergrund stünden. 

Lernen als Brücke zwischen den Generationen 

Mehrfach wurde betont, dass Lernen eine Schlüsselkompetenz ist, um mit der Geschwindigkeit des Wandels Schritt zu halten. Anja Förster, Gründerin von Rebels at Work, stellte in ihrer Keynote die prägnante Frage: «Lerne ich eigentlich so schnell, wie die Welt sich da draussen verändert?» Unternehmen, die starr an alten Planungsmechanismen festhielten, gingen ihrer Ansicht nach den Weg der minimalen Agilität. Erfolgreicher seien jene, die bereit seien, mutig zu experimentieren, Fehler zuzulassen und im Handeln zu lernen und zu justieren. 

Auch Höpflinger sah das Lernen als verbindendes Element. Wissensvermittlung verlaufe heute oft in beide Richtungen. Während ältere Mitarbeitende ihre Erfahrung einbringen könnten, zeige sich in der Praxis, dass Jüngere ihre Vorgesetzten etwa bei digitalen Themen unterstützten. «Faktisch läuft der Lernprozess oft umgekehrt: Die Enkelkinder erklären den Grosseltern, wie ein Smartphone funktioniert», sagte er. Entscheidend sei die Bereitschaft, diese Wechselwirkung zu akzeptieren und zu nutzen. 

Valentina Wetter berichtete, wie in ihrem Unternehmen Coaching am Arbeitsplatz eingesetzt werde, damit erfahrene Projektleiter ihr Wissen gezielt an Jüngere weitergeben. Gleichzeitig würden «lessons learned» dokumentiert und teamübergreifende Projekte initiiert, die den Austausch förderten. Für sie sei das ein Beispiel dafür, dass Lernen nicht von formellen Strukturen abhänge, sondern von einer Kultur, die Austausch ermögliche. 

Diversität als Innovationsfaktor 

Die Auseinandersetzung mit Diversität ging weit über die Altersfrage hinaus. Förster warnte eindringlich vor Homogenität: «Homogenität ist der grösste Killer von Innovationen.» Unterschiedliche Perspektiven erzeugten Reibung, doch gerade darin liege der Mehrwert. Viele Führungskräfte scheuten diese Reibung, weil sie unbequem sei. Das Ergebnis seien «schwarmdumme Teams», die schlechtere Lösungen und weniger Innovationen hervorbrächten. 

Buchempfehlung

Das Buch «Lebenszyklusorientierte Personalentwicklung» thematisiert, wie Mitarbeitende zu verschiedenen Lebensphasen im Berufsleben wirkungsvoll begleitet werden können. Es erklärt fünf Teillebenszyklen - biosozial, familiär, beruflich, organisationsbezogen und stellenbezogen - und zeigt praxisnahe Massnahmen auf, die von HR und Unternehmensleitung gemeinsam umgesetzt werden können. Zahlreiche Beispiele illustrieren dialogbasierte Kommunikation, Wertschätzungskultur und Förderung der Selbstverantwortung als Grundlage für eine zukunftsfähige Personalentwicklung. 

Titel: Lebenszyklusorientierte Personalentwicklung - Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und lebenslanges Lernen stärken 

Autorinnen: Anita Graf, Anja Mücke, Susanne Dornemann (und weitere)  

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 

Erscheinungsdatum: 7. Januar 2025 

Seitenzahl: 416 

Beim Thema Diversität hob Höpflinger hervor, dass deren Nutzen vom organisationalen Klima abhänge: «Das Diversitätsklima ist wichtiger als die Diversität an sich.» Fehle eine positive Kultur des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung, könne Vielfalt sogar Konflikte verstärken. Besonders sichtbar werde das im Verhältnis zwischen Belegschaft und Kundschaft. «Offene Arbeitsteams profitieren stärker von intergenerationeller Zusammenarbeit als formal regulierte Organisationen.» Ein gutes Diversitätsklima sei damit der Schlüssel, um Potenziale zu heben und Konflikte produktiv zu machen. 

Praxisworkshop Swiss Life 

Besonders plastisch wurde das Thema im Praxisworkshop von Claudia Dahinden, Projektmanagerin Strategische HR-Projekte bei Swiss Life. Sie stellte das Programm «Berufsleben aktiv gestalten» vor, das seit 2016 besteht und in die Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens eingebettet ist. Es zielt darauf ab, die Arbeitsmarktfähigkeit über alle Lebensphasen hinweg zu erhalten. 

Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass das traditionelle Drei-Phasen-Modell – Ausbildung, Arbeit, Rente – der Realität nicht mehr gerecht wird. Dahinden erklärte, dass man bei Swiss Life aufgehört habe, in Altersgrenzen wie 50 plus oder 55 plus zu denken, und stattdessen begonnen habe, Karrieren in Phasen zu verstehen. «Wir kommen immer mehr in ein Multi-Phasen-Modell, in dem Menschen Aus- und Weiterbildung, Arbeit, Familienaufgaben und Sabbaticals unterschiedlich kombinieren.» 

 

Umgesetzt wurde dies mit einer Vielzahl von Massnahmen. Besonders hervorzuheben ist das Modell 58+, das Mitarbeitenden erlaubt, ihr Pensum schrittweise zu reduzieren und gleichzeitig die Pensionskassenbeiträge auf früherem Niveau weiterzuführen. So werde ein sanfter Übergang in die Pension ermöglicht, während das Know-how länger im Unternehmen bleibe. «Ich kann auf meinem früheren Salär Pensionskassenbeiträge weiterzahlen, und Swiss Life zahlt diese auch», erklärte Dahinden. Ein Drittel der über 58-jährigen Mitarbeitenden nutze dieses Modell.

Zu den weiteren Elementen gehören flexible Arbeitszeitmodelle, die den Kauf oder das Ansparen von Ferien erlauben, Time-out-Optionen, Mobile Office sowie ein internes Certificate of Advanced Studies «Reinventing Work». Zusätzlich wurden Austauschformate wie Coffee Roulette eingeführt, die Begegnungen über Abteilungs- und Altersgrenzen hinweg fördern. Dahinden betonte, dass Kommunikation entscheidend sei: «Unsere Mitarbeitenden haben uns rückgemeldet, dass sie oft gar nicht wussten, welche Modelle existieren.» Sie gingen einfach im Laufe der Zeit vergessen. 

Das Programm habe nicht nur die interne Arbeitsfähigkeit verbessert, sondern auch die Positionierung von Swiss Life als attraktive Arbeitgeberin gestärkt. Zum Schluss unterstrich Dahinden, dass Programme zur Generationenvielfalt nur dann Wirkung entfalten, wenn sie auf Haltung basierten. «Es geht darum, Vielfalt nicht nur als Schlagwort zu nutzen, sondern konkrete Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Menschen über alle Lebensphasen hinweg selbstbestimmt arbeiten können.» 

Fazit 

Die Tagung machte deutlich, dass dem Thema Altersdiversität die nötige Beachtung zukommen sollte. Der Mythos starrer Generationenunterschiede greift zu kurz. Entscheidend sind Werte, Lebensphasen, Lernbereitschaft und eine Kultur, die Offenheit und Respekt fördert. Altersdiversität wird dann zum Erfolgsfaktor, wenn Unternehmen sie aktiv gestalten. Das Praxisbeispiel Swiss Life zeigt, wie strategisch verankerte Massnahmen langfristig wirken können. 

Take Aways

  • Generationenzuschreibungen sind Stereotype. Wertunterschiede ergeben sich aus einer Vielzahl von Lebensumständen. 
  • Werte wie Vertrauen, psychologische Sicherheit und Respekt verbinden über Altersgrenzen hinweg. 
  • Lernen ist die Schlüsselkompetenz, die in intergenerational gefördert werden muss, um Nutzen aus Generationenvielfalt zu ziehen. 
  • Diversität entfaltet innovationsfördernde Wirkungen nur in einem positiven, offenen Klima des gegenseitigen Austauschs. 
  • Konkrete Massnahmen können die Arbeitsmarktfähigkeit alternder Mitarbeitenden unterstützen und flexible Lösungen für Mitarbeitende in allen Lebensphasen bieten.  

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