Viele Organisationen sind geprägt von grossen Umwälzungen und Umbrüchen: von Akquisitionen und Zusammenschlüssen, neuen (Produktions-)Technologien, Anforderungen an die Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit der Mitarbeitenden und der Unternehmen, von neuen Formen der Zusammenarbeit innerhalb der Organisationen und mit den verbundenen Partnern im In- und Ausland. Auch demografische Veränderungen wirken sich aus: Die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge bis 1964 treten in die Rentenphase ein. Nicht ohne Grund hat die Europäische Union kürzlich das Europäische Jahr der Kompetenzen 2023 ausgerufen.
Wer in den Unternehmen für die zukünftigen Fähigkeiten der Mitarbeitenden und der Gesamtorganisation Verantwortung trägt, muss Antworten auf wichtige Fragen geben: Wie können wir die Mitarbeitenden besser schulen? Welche Technologien brauchen wir dafür? Können wir das noch mit «Bordmitteln» schaffen? Welcher Fixstern kann dem Unternehmen auf dieser Reise zu einer starken Lernkultur Orientierung geben?
Dieser Artikel bietet einen Rahmen, mit dessen Hilfe Personalverantwortliche einen Weg durch den Dschungel an Möglichkeiten finden, um diese und weitere wichtige Fragen zu beantworten.
Bevor Anbieter und konkrete Lerninhalte – beispielsweise über sogenannte Content Provider wie z.B. Skill Soft, LinkedIn Learning, Masterplan u.v.a.m. – bestimmt werden, ist eine Corporate-Learning-Strategie hilfreich, denn diese schafft Orientierung für alle operativen Tätigkeiten.
Strategieentwicklung als eigenständiges Projekt
Die Entwicklung der Corporate-Learning-Strategie (CLS) hat einen Anfang, eine Durchführungs- und Umsetzungsphase, es bedarf – auch schon bei der Strategieentwicklung – des Stakeholder Managements und eines Kommunikationskonzepts. All das muss nicht unnötig aufwendig gestaltet werden, aber es gehört zum Handwerkszeug, um die Corporate-Learning-Strategie erfolgreich zu entwickeln und umzusetzen. Die Strategieentwicklung ist ein eigenständiges Projekt.
Vor der Konzeptphase sind einige wichtige Fragen zu stellen und im Laufe des Projekts mit allen Stakeholdern zu bearbeiten.
Fragestellungen vor der CLS-Entwicklung
Der Ausgangspunkt: Warum stellen wir uns diese Frage gerade jetzt? Was ist der Ausgangspunkt unserer Initiative? Was treibt uns an? In praktisch allen Fällen lassen sich die Anlässe auf drei Hauptkategorien zurückführen: externe Einflüsse auf die Organisation, neue Erkenntnisse z.B. aus Mitarbeiterbefragungen oder eine neue Führung auf der Top-Ebene, die neuen Mut aufbringt oder eine Aufbruchstimmung bei anderen in der Organisation freisetzt.
Die Frage nach dem Ausgangspunkt ist sehr wichtig, um zu vermeiden, auf oberflächliche Ziele zuzusteuern, die sich rasch wieder verändern können. Hier liegt der Kern der späteren Kommunikationsstrategie. Stellt man diese Frage, erhält man sehr wahrscheinlich bereits viele Antworten auf die Zielfrage (s.u.). Diese kann man aufnehmen und abspeichern, dennoch sollte die erste Frage nach dem Ausgangspunkt konsequent beantwortet werden. Lassen Sie sich nicht ablenken!
Tipp: Verantwortlichkeiten und Machtpromotoren klären
Ganz besonders wichtig für den Erfolg und auch für die Klärung der Rollen im Projekt ist, wer die Ownership für das Thema hat. CEO, CHRO, Gesellschafter oder Eigentümerinnen, Experten aus der L&D-Abteilung? Nur wenn die CLS auch mit Einfluss und Machtpromotoren ausgestattet ist, wird sie die erforderliche Wirkung in der Organisation entfalten können.
Das strategische Ziel: Was verbessern wir mit unserer Corporate-Learning-Strategie? Und: Für wen wird es besser? Im Mittelpunkt der Zieldefinition steht die Geschäftsstrategie: Welche Märkte, Produkte, Geschäftsmodelle wollen erschlossen, entwickelt, gemanagt werden? Welchen Beitrag kann das Corporate Learning dazu leisten? Was soll anschliessend anders, besser sein. Es hat sich bewährt, vom Ziel her zu denken und von dort aus dann den Pfad zur Zielerreichung zu entwickeln. Wesentlicher Baustein in der Konkretisierung und Formulierung der CLS ist die People-Centricity, also die Ausrichtung an Nutzen und Nutzungsfreundlichkeit für die Teams und Führungskräfte. Dieses Grundverständnis muss bereits im Ansatz deutlich verankert sein und wird später in der Umsetzung, z.B. bei der Auswahl der Partner und der technischen Lösung, erneut deutlich werden.
Tipp: People-Centricity als Erfolgskriterium
Corporate-Learning-Strategien sind immer dann erfolgreich, wenn sie für die Nutzer und Nutzerinnen attraktiv sind, getreu dem Sprichwort: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Typischerweise werden in der Zieldefinition mehrere verschiedene Ziele identifiziert. Manche sind widersprüchlich – hier bedarf es einer klaren und konsequenten Positionierung, welche Ziele (jetzt) nicht angegangen werden. Strategiearbeit ist immer eine Reduktion von Möglichkeiten, ein Ausschliessen von all den vielen Wegen, die auch alle denkbar sind. Nur mit dieser Klarheit sind Orientierung und Ausrichtung möglich.
Schliesslich ist es nützlich, eine Hierarchie der Ziele aufzustellen. Die Nutzbarkeit unabhängig von Ort und Zeit ist in vielen Fällen beispielsweise höher einzuordnen als eine eventuell wünschenswerte Vielsprachigkeit der (digitalen) Lernangebote. Die Zielhierarchie ist eine hilfreiche Struktur, mit der viele weitere Entscheidungen auf einer gut abgestimmten Basis getroffen werden können, die das Projekt zügig vorantreibt.
Die Bedarfsanalyse
Die Analyse umfasst im Wesentlichen zwei Dimensionen: die Inhalte und die Formate.
Inhalte: Welche Inhalte sollen angeboten werden? Fachliche oder überfachliche/kulturelle? Diese Leitfragen scheinen trivialer Natur zu sein und es bietet sich als Antwort an, auf die konkreten fachlichen Themen der Organisation zurückzugreifen. Bei weiterem Nachdenken wird aber deutlich, dass sie tief in die Basiskonfiguration des (zukünftigen) Lernens der Organisation eingreifen: In welcher (Wettbewerbs-) Situation befindet sich das Unternehmen? Wie stark ist die Notwendigkeit ausgeprägt, grundlegende Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern? Wie bedeutsam ist die Innovationskraft für den weiteren Erfolg der Organisation?
Je stärker die ausschliesslich fachlichen Aspekte des Wissens im Vordergrund stehen, desto weniger intensiv muss die CLS das organisationale Lernen – also die Fähigkeit der Gesamtorganisation, neue Kompetenzen bei der Lösung von Problemen, Innovation und Kreation von Neuartigem zu entwickeln – in den Mittelpunkt rücken. Die Strategie wird sich dann eher auf den Nahraum konzentrieren und sich darauf ausrichten, die unmittelbar drängenden oder zeitnah absehbaren Defizite zu kompensieren. Je dynamischer das Wettbewerbsumfeld ist, je drängender die Art und Weise der Zusammenarbeit (inkl. des Führungsverhaltens!) modernisiert, evtl. sogar revolutioniert werden muss, um den veränderten Anforderungen entsprechen zu können, desto umfassender muss auch die CLS ansetzen.
Die Formate: In welchen Formaten sollen die Lernangebote vermittelt werden: in digitaler Form oder als Präsenzseminare?
Die Covid-19-Pandemie und die damit einhergehende Forcierung der digitalen Zusammenarbeit hat auch beim Thema Lernen Schub entfaltet. Kreative Lern- und Kooperationstools haben sich etabliert, viele Menschen sind inzwischen vertraut mit kollaborativen, interaktiven Technologien und haben sie in ihren Arbeitsalltag integriert. Die Technologien sind stabil und einfach zu nutzen.
Mit digitalen Lernformaten sind viele Vorteile verbunden: Personen aus dem Unternehmen oder von ausserhalb können unkompliziert und ohne Reisekosten teilnehmen; alle Teilnehmenden vermeiden Reisezeiten, damit werden auch kurze Lerneinheiten sinnvoll. Zugleich ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass auch in digitalen Lernformaten das Lernen am effektivsten ist, wenn es ein soziales Lernen ist. Das heisst, die Teilnehmenden sollten in der Lage sein, miteinander zu interagieren und nicht nur rein passiv oder im Austausch mit den Trainern aktiv zu werden. Gerade in der sich verstärkenden Remote-Work-Kultur bieten Präsenzveranstaltungen die Chance, Menschen ganzheitlich miteinander in Kontakt zu bringen, authentische Erfahrungen miteinander zu teilen und Netzwerke (neu) zu knüpfen.
Die Entscheidung zwischen den Optionen
Bei der Wahl zwischen den verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten der unternehmensspezifischen CLS hat es sich als zielführend erwiesen, ein Set aus Kriterien zugrundezulegen. Anhand dieser Kriterien lässt sich der Entscheidungsprozess transparent und rational durchführen. Dies ermöglicht auch im Nachhinein, die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen sicherzustellen. Jedes Unternehmen hat eigene Rahmenbedingungen, dennoch lassen sich einige Kriterien identifizieren, die von genereller Bedeutung sind:
- Agilität/Smartness: Wie anpassungsfähig ist die Strategie, wie viel Spielraum bietet sie, um (absehbaren) Veränderungen gerecht werden zu können und wie anwenderfreundlich ist das Gesamt-Setup?
- Zeitaufwand und Geschwindigkeitserfordernis bis zur Umsetzung und bis zum Eintritt von Resultaten
- Budgetrestriktionen
- Technologischer Fit zur bestehenden IT-Landschaft
- Regulatorische oder datenschutzrechtliche Limitierungen
- Kulturelle Passung
Diese Kriterien müssen mit den Bauprinzipien der formulierten strategischen Ziele korrespondieren. Sollten hier Widersprüche deutlich werden, bedarf es einer raschen und eingehenden Klärung mit den Top-Entscheidenden. Andernfalls läuft das Projekt Gefahr, früher oder später in Schieflage zu geraten.
Die Umsetzung
Wenn diese Fragen gemeinsam mit den internen und externen Partnern beantwortet wurden, kann die Umsetzung beginnen. Hier gelten die bekannten Dos & Dont’s des Projektmanagements. Die Einführung einer Lernarchitektur oder die grundlegende Veränderung einer bereits bestehenden ist für alle daran Beteiligten ein echtes Change-Projekt – und die Aufgabe besteht darin, dies auch allen Beteiligten ganz deutlich und erlebbar zu machen. Das grösste Scheitern bestünde darin, das Projekt umzusetzen, und niemand bekommt etwas mit!
Tipp: Mitarbeitende für Veränderung motivieren
Ein Ziel ist die Veränderung des Verhaltens der Mitarbeitenden und Führungskräfte; sie sollen am Arbeitsplatz, in der Produktion, im Kundenkontakt und anderen Situationen neue Fähigkeiten (Skills) verfügbar haben. Erzählen Sie also eine kraftvolle Story, die Geschichte, wie alles anfing, was die Zukunft bringen wird und wie der Teil aussieht, den jede/jeder dazu beitragen kann. Erläutern Sie den Nutzen jeweils aus den unterschiedlichen Perspektiven: aus Kundensicht, unter Effizienzaspekten, aus dem Blickwinkel der Mitarbeitenden.
Akzeptanz schaffen
Die Entwicklung einer auf das Unternehmen zugeschnittenen CLS schafft grosses Potenzial für eine grundlegende Weiterentwicklung der Innovationskultur, der Selbstbestimmtheit und des Commitments der Mitarbeitenden und Führungskräfte und damit für die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Um die Akzeptanz zu erhöhen und tatsächlich neues Lernverhalten zum üblichen Verhalten werden zu lassen, ist das Modell der drei Kernphasen des Change Managements hilfreich: «unfreeze – change – refreeze». Damit ist gemeint, dass alle an der Veränderung Beteiligten aus ihrem derzeit stabilen Zustand («So, wie ich mich im Moment verhalte, ist alles okay») herausgelöst werden müssen («unfreeze»), bevor eine erste Änderung des Verhaltens möglich wird. Hierzu bedarf es bei der CLS vor allem der Beschreibung des Veränderungsgründe (vgl. Abschnitt «Ausgangspunkt») und in einem nächsten Schritt des Nutzens. Natürlich muss diese Kommunikation empfängerorientiert gestaltet werden: Die CEO hat andere Fragen als ein operativer Mitarbeiter oder die Vertriebskollegin im Aussendienst. Der Nutzen sollte «anfassbar» sein, d.h. durch konkretes Ausprobieren oder durch inspirierende Videos oder Live-Berichte von Arbeitskolleginnen erlebbar sein. Es hilft sehr, mit Pilotgruppen zu starten und von diesen dann die «guten Nachrichten» in die Organisation transportieren zu lassen. Wenn sich dann eine Veränderung einstellt und z.B. über Nutzungsraten der digitalen Angebote, Teilnahmequoten der Präsenzformate oder Kundenfeedback gemessen werden kann, bedarf es unbedingt nachhaltiger Anstrengungen, um den Erfolg zu sichern («refreeze») und zu vermeiden, dass nach wenigen Monaten die Anfangsbegeisterung verflogen ist und alle wieder in den «alten Trott» zurückfallen. Hier bieten sich z.B. die Verankerung in Performance-Management-Systemen oder die Verzahnung mit Talentprogrammen an.
Quellen
- Lewin, K. (1963), Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, Bern, Stuttgart.
- Schuchmann, D., Seufert, S. (2015). Corporate Learning in times of Digital Transformation: A Conceptual Framework and Service Portfolio for the Learning Function in Banking Organisations, in: International Journal of Corporate Learning (iJAC), 8(1), 31-39.
- Von der Leyen, U. (12.10.2022). Europäisches Jahr der Kompetenzen, letzter Abruf, 1. Juni 2023.
Take Aways
- Die Entwicklung einer Corporate-Learning-Strategie (CLS) ist ein Projekt und bedarf eines professionellen Projektmanagements.
- Es ist wichtig, Klarheit über Gründe und Ziele einer CLS zu schaffen. Ziele sollten einer Hierarchie folgen.
- Machtpromotoren müssen die CLS stützen, Verantwortliche für die CLS sind zu benennen.
- People-Centricity ist ein wichtiges Erfolgskriterium für die gewählten Lernangebote.
- Je stärker das Unternehmen grundsätzliche Verhaltens- und Kulturveränderungen anstrebt, umso umfassender muss die CLS ansetzen.
- Aspekte des sozialen Lernens (Motivation, informeller Austausch) sollten bei Entscheidungen über Lernformate einbezogen werden.
- Kontinuierliche Kommunikation, Überzeugung, Vorbildhandeln der Führungskräfte und Verankerung in Performance Management und Talent-Development-Systemen sind Schlüssel, um Corporate Learning im Unternehmen voranzutreiben.