Schweizer Gesetzgebung diskriminiert Witwer

Mittwoch, 12. Oktober 2022
Die Schweiz verstösst mit ihrer Gesetzgebung zur Witwerrente gegen das Diskriminierungsverbot in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Dies hat die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg entschieden.

Konkret ging es um einen Witwer aus dem Kanton Appenzell-Ausserrhoden, der nach Erreichen der Volljährigkeit der jüngeren Tochter keine Rente mehr erhielt.

Der Fall wurde auf Antrag der Schweiz von der Grossen Kammer und damit der zweiten Instanz des EGMR im Juni 2021 verhandelt. Diese bestätigt in ihrem Urteil den Entscheid der kleinen Kammer.

Die Kammer führt in ihrem Urteil aus, dass der Witwer alleine aufgrund seines Geschlechts keine Rente mehr erhielt. Damit sei das in Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehaltene Diskriminierungsverbot verletzt worden. Eine Witwe hätte in der gleichen Situation weiterhin Leistungen ausbezahlt bekommen. Die Kammer erinnert daran, dass es einer tiefgreifenden Begründung bedürfe, um eine mit der Konvention vereinbare Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlecht rechtfertigen zu können. Der Ermessensspielraum der Staaten sei eng.

Traditionelle Rollenzuweisungen als Begründung reichen nicht aus

Wie aus dem Urteil hervor geht, hat die Schweiz in ihrer Beschwerde argumentiert, dass die Gleichstellung von Mann und Frau in Bezug auf die Erwerbstätigkeit und die Rollenverteilung bei Paaren noch nicht erreicht sei.

Aus diesem Grund rechtfertige sich die Annahme, dass der Ehemann für seine Frau sorge, insbesondere wenn Kinder zu betreuen seien. Davon ausgehend sei laut der Argumentation der Schweiz die grössere Absicherung der Witwen im Vergleich zu den Witwern rechtmässig. Die unterschiedliche Behandlung basiere nicht auf Stereotypen, sondern auf der gesellschaftlichen Realität.

Diese Argumentation lässt die Kammer nicht gelten. Sie betont vielmehr, dass weit verbreitete gesellschaftliche Gewohnheiten heute nicht mehr ausreichten, um eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts zu rechtfertigen - egal ob sie zum Vorteil der Frauen oder Männer ausfalle.

Die Schweiz muss dem Witwer eine Genugtuung von 5000 Euro bezahlen und ihm 16'500 Euro für seine Kosten und Ausgaben in diesem Verfahren erstatten.

Kinder allein grossgezogen

Der unterdessen 69-jährige Mann kümmerte sich nach dem tödlichen Unfall seiner Frau um die damals knapp zwei und vier Jahre alten Kinder. Als das jüngste Kind die Volljährigkeit erreichte, wurde dem Mann im Dezember 2010 die Witwerrente gestrichen. Er war damals 57 Jahre alt und hatte sich 16 Jahre lang um seine Kinder gekümmert.

Das AHV-Gesetz sieht die Aufhebung der Rente bei Witwern explizit so vor. Bei Frauen besteht auch nach Erreichen der Volljährigkeit der Kinder ein Anspruch auf Witwenrente. Der beschränkte Witwerrenten-Anspruch in der Schweiz basiert auf der Überlegung, dass der Ehemann für den Lebensunterhalt der Frau aufkommt. War diese über Jahre für die Versorgung der Kinder zuständig, wird ihr nicht zugemutet, wieder Tritt in der Erwerbswelt finden zu müssen.

Unterdessen hat sich das Schweizer Parlament daran gemacht, die bisherige Gesetzgebung zu ändern. So soll die heutige Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern beseitigt werden. (sda)

Urteil Nummer 78630/12

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