Keine Klassenpflege

Donnerstag, 28. Januar 2021 - Gregor Gubser
Mehr als die Hälfte der Heimbewohner ist auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Daniel Bollinger ist froh, dass so alle unabhängig von ihren finanziellen Verhältnissen in ein Pflegeheim können.
Herr Bollinger, welche Rolle spielen Ergänzungsleistungen (EL) bei der Finanzierung eines Heimaufenthalts?

Ich kann nur für den Kanton Basel-Landschaft sprechen. In Münchenstein, der Gemeinde, in der ich bis vor kurzem Heimleiter war, sind über 100 von 160 Bewohnerinnen und Bewohnern EL-Bezüger – wobei die Bezüge natürlich unterschiedlich hoch sind. Diese Zahl dürfte in den meisten Gemeinden im Kanton Basel-Landschaft ähnlich sein mit Ausnahme von einigen wenigen reicheren Gemeinden.

Im Grossen und Ganzen dürften die Verhältnisse auch in anderen Kantonen ähnlich sein. Allerdings unterscheiden sich die Kosten für die Heime kantonal, denn der bewilligte EL-berechtigte Pflegeheimtarif wird politisch festgelegt.

Helfen die Heime ihren Bewohnern beim Antrag für EL?

Heimadministrationen oder kommunale Altersfachstellen helfen. Das Formular wird als bewältigbar empfunden. Ein Problem sind eher die vielen Dokumente, die (verständlicherweise) beigelegt werden müssen, um die Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu belegen. Häufig sind die Dokumente zwar in Papierform oder auf dem Computer vorhanden, die Kunden wissen einfach nicht mehr wo. Notfalls können die benötigten Unterlagen wie z. B. Bankauszüge der letzten zehn Jahre bei den betreffenden Institutionen angefordert werden. Der Antrag für die EL ist für unsere Kunden aber kein Brennpunkt. Überall, wo man Geld will, muss man sich darum bemühen und entsprechende Nachweise erbringen.

Unser Experte

Daniel Bollinger war bis zu seiner Pensionierung vor einem Jahr Heimleiter der Stiftung Hofmatt in Münchenstein. Er ist Präsident von Curaviva BL und hat am 1. Januar 2021 das Präsidium der Stiftung APH Binningen angetreten.

«Wer wenig Geld hat und wen es dann mit dem Pflegeheim ‹erwischt›, der braucht sich finanziell keine Sorgen zu machen, das finde ich sozialstaatlich gesehen eine schöne Perspektive.»

Wie sind Ihre Erfahrungen mit den Ausgleichskassen; sind sie hilfsbereit?

Wie überall: Es kommt auf die einzelnen Menschen an. Grundsätzlich sind die Mitarbeitenden der Ausgleichskassen hilfsbereit. Sie sind aber mit der Herausforderung konfrontiert, sozialversicherungsrechtliche Zusammenhänge so darzustellen, dass es der normale Bürger versteht. Diese Informationen und Anforderungen allgemeinverständlich zu übersetzen, ist zuweilen schwierig oder gar unmöglich.

Manchmal ist ein anderes Dienstleistungsverständnis wahrnehmbar. Im Pflegeheim sind wir rund um die Uhr für unsere Kunden da. Die Ausgleichskassen haben fixe Öffnungszeiten. Ein Beispiel: Ich habe einmal einen dringenden Fall gehabt. Ich habe um 16.10 Uhr angerufen und bin in der Warteschlaufe gelandet. Die Warteschlaufe hat dann um 16.30 Uhr – am Ende der Öffnungszeiten der SVA Basel-Landschaft – von «Zurzeit ist kein Mitarbeiter verfügbar» auf «Unsere Öffnungszeiten sind ...» umgestellt. Allerdings geht es bei EL-Anträgen in der Regel nicht um Stunden, somit ist es vertretbar, am nächsten Tag nochmals anzurufen. Als Leiter eines Pflegeheims kann einen der Kunde fast zu jeder Zeit kontaktieren, da ist man manchmal auf die geordnete Arbeitszeit der Amtsstellen etwas neidisch.

Erscheint es Ihnen sinnvoll, dass die Pflege in Altersheimen faktisch von den EL finanziert wird?

Aus Sicht der Pflegeheime ist die EL-Finanzierung sehr angenehm. Die Taxe jedes Bewohners ist vom System her gesichert, auch wenn sie administrativ nicht in jedem Fall leicht eingetrieben werden kann. Bei der Frage, ob jemand eintritt oder nicht, kann man sich auf die medizinischen und sozialen Aspekte beschränken. Die finanzielle Situation entscheidet nicht darüber, ob jemand ins Heim eintreten kann oder nicht. Im Heim gibt es – anders als in Spitälern mit Privat-, Halbprivat- oder Grundversicherung – keine «Klassen». Alle bezahlen gleich viel, woher auch immer das Geld kommt, und erhalten die gleichen Leistungen. Das vereinfacht die Abläufe extrem. Einzig wer es sich leisten kann und will, geht nicht in ein «Volksheim», sondern in ein Tertianum.

Gäbe es eine sinnvolle Alternative für die Finanzierung?

Pflegeversicherungen haben sich in unserem Land nicht durchgesetzt. Für den Kunden kostenfreie Leistungen ebenfalls nicht. Ideen wie ein Gratistram oder das bedingungslose Grundeinkommen haben es in der Schweiz schwer. Wer wenig Geld hat und wen es dann mit dem Pflegeheim «erwischt», der braucht sich finanziell keine Sorgen zu machen, das finde ich sozialstaatlich gesehen eine schöne Perspektive.

Können die Bewohner verhindern, dass sie auf EL angewiesen sind?

Vor EL-Finanzierung schützen hohe laufende Einnahmen oder Vermögen. Die einen sparen, wenn sie können, um auch einen allfälligen Heimeintritt finanzieren zu können, andere geben das Geld mit vollen Händen aus, um es ja nicht ins Pflegeheim bringen zu müssen. Das System lässt das zu, und es ist doch in Ordnung, mit 75 noch eine schöne Kreuzfahrt zu machen. Schliesslich weiss man noch nicht, ob und wann man ins Pflegeheim muss. Man merkt aber, dass die Heimbewohner unter starkem Einfluss ihrer Kinder stehen, die manchmal daran interessiert sind, ihr Erbe zu sichern.

Ist es sinnvoll, dass seit dem 1. Januar nur noch die tatsächlich in Rechnung gestellte Heimtaxe in die EL-Berechnung einfliesst?

Früher wurden die EL im gleichen Ausmass ausgezahlt, auch wenn ein Bewohner für ein paar Tage ins Spital musste. Nun wird ihm für die Tage im Spital die Heimtaxe in der EL-Berechnung nicht mehr angerechnet. Aus Bewohnersicht fällt hier ein kleiner finanzieller Spielraum weg, der vom System her nicht so gedacht war. Aus Heimsicht war es einfacher abzurechnen. Es ist aber korrekt, dass nun tagesgerecht abgerechnet wird.

Ist es eine Verbesserung, dass die EL auch direkt dem Heim ausbezahlt werden können?

Auf jeden Fall. Dafür kämpfen die Heime seit langem. Leider werden die EL-Leistungen relativ oft von Angehörigen missbraucht. Bevor die Heimrechnung bezahlt wird, werden oft alte Löcher gestopft. So wird mit dem Geld schon einmal die seit zwei Jahren offene Zahnarztrechnung beglichen. Das Heim kommt in der Priorität der Bewohner und ihrer Angehörigen oft zuletzt.
Wird die direkte Auszahlung die Regel sein?

Es wäre einfacher, wenn dies die Regel wäre. Ich weiss aber nicht, wie dies allgemeinverbindlich gemacht werden kann. In den Augen vieler kommen wir immer zuletzt.

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