Lernen unter Druck: Was das Gehirn braucht

Freitag, 18. Juli 2025 - Karen Heidl
Digitale Medien und KI eröffnen neue Lernmöglichkeiten. Welche Auswirkungen haben sie aber auf die menschlichen kognitiven Fähigkeiten? Der Neurobiologe Prof. Dr. Martin Korte erläuterte anlässlich des Learntec-Kongresses 2025, worauf es für ein effektives Lernen ankommt.

Der Einsatz digitaler Technologien im Bildungs- und Weiterbildungsbereich hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Doch was bedeuten diese Veränderungen für das menschliche Gehirn? Prof. Dr. Martin Korte, Neurobiologe an der TU Braunschweig, warnte auf der Learntec 2025 in Karlsruhe vor unrealistischen Erwartungen an digitales Lernen. Sein zentrales Anliegen: Nur wer die Funktionsweise des Gehirns versteht, kann digitale Medien sinnvoll einsetzen.

Informationsflut versus Aufmerksamkeitsökonomie

Wir leben in einer Zeit, in der Informationsmengen exponentiell wachsen, was Korte in seiner Keynote zu der Aussage führte: «Es ist nicht das Informationszeitalter, es ist das Zeitalter der begrenzten Aufmerksamkeitsökonomie.» Die Kapazität des menschlichen Gehirns sei begrenzt. Informationen würden nicht automatisch als Wissen abgespeichert. «Das ist ein bisschen so, als würde man versuchen, aus einem geöffneten Staudammtor zu trinken.»: Mit diesem Bild beschreibt Korte die Diskrepanz zwischen Datenfülle und kognitiver Verarbeitungskapazität.

«Lernen ist ein aktiver, die Struktur des Gehirns verändernder Prozess.»

Das Arbeitsgedächtnis kann pro Sekunde nur etwa 120 Bits aufnehmen, während unsere Sinne bis zu 400000 Reize pro Sekunde erfassen. «Wenn wir zuhören, ist das Arbeitsgedächtnis bereits zur Hälfte ausgelastet», so Korte. Multitasking sei deshalb keine Lösung, sondern führe zu Fehlern und Gedächtnisverlust. Wer während einer Online-Schulung chattet oder sein Smartphone benutzt, verliert den Anschluss. Studien aus Stanford und Kanada bestätigen, dass digitale Ablenkung die Erinnerungsleistung deutlich reduziert.

Digitale Medien und die psychische Gesundheit Jugendlicher

Prof. Dr. Martin Korte warnte in seinem Vortrag vor den psychosozialen Folgen übermässiger Bildschirmzeit, insbesondere bei Jugendlichen: Jugendliche verbrächten bis zu neun Stunden täglich vor Bildschirmen – meist ohne direkte soziale Interaktion. Dies führe zu einem gesteigerten Einsamkeitsempfinden, obwohl sie online vielfach vernetzt seien. Einsamkeit gilt als starker Stressor für das Gehirn und wird mit Depressionen, Angststörungen und Schlafproblemen in Verbindung gebracht.

Vor allem pubertierende Jugendliche seien anfällig für den ständigen Vergleich in sozialen Netzwerken («Bin ich schön genug? Erfolgreich genug?»), was zu chronischer emotionaler Belastung führen könne. «Diese Vergleichbarkeit trifft pubertierende Gehirne besonders stark», betonte Prof. Korte.

Studien zeigen zudem einen deutlichen Anstieg psychischer Erkrankungen bei weiblichen Jugendlichen – darunter Depressionen, Essstörungen und suizidales Verhalten –, der mit Bildschirmzeit und Social-Media-Konsum korreliere.

Die Rolle der Aufmerksamkeit im Lernprozess

Konzentration ist laut Korte der wichtigste Faktor für erfolgreiches Lernen. Zwar habe eine Wiener Metastudie gezeigt, dass die menschliche Konzentrationsfähigkeit in stillen Räumen stabil sei, aber das sei nur ein Teil der Wahrheit. Denn das Gehirn verfüge über zwei Systeme: eines für fokussiertes Arbeiten und eines für spontane Reaktionen auf Reize. Letzteres sei durch vibrierende Smartphones oder eingehende E-Mails auf dem Computer besonders leicht auslösbar. Aber selbst ein ausgeschaltetes Handy auf dem Tisch könne bereits die Aufmerksamkeit senken.

Hinzu komme: Vor allem bei Jugendlichen sei das Stirnhirn – zuständig für Planung, Zielverfolgung und Konzentration – noch nicht ausgereift. «Etwa 40% des Stirnhirns sind während der Pubertät in der Umbauphase », erklärt Korte. Dies erschwere das Lernen zusätzlich, besonders in einer Zeit, in der die Bildschirmnutzung massiv zunehme.

Warum Vorwissen und aktives Lernen unverzichtbar bleiben

Korte erklärte, dass Wissen im Gehirn strukturell gespeichert werde. Je mehr wir wüssten, desto differenzierter nähmen wir unsere Umwelt wahr. «Wissen verändert unser Denken, unser Handeln und unsere Fähigkeit zu differenzierter Wahrnehmung», erklärte der Neurobiologe. So erkenne
ein Botanikexperte mehr Pflanzenarten auf einer Wiese, oder ein erfahrener
Lehrer erfasse mehr Substrukturen in einer Klasse. Vorwissen sei die Voraussetzung, um neue Informationen einordnen und kritisch hinterfragen zu können.

Die Vorstellung, man könne durch KI oder Suchmaschinen auf externes Wissen verzichten, hält Korte für gefährlich. Eine Studie aus New York zeige, dass sogenannte Digital Natives Informationen nicht mehr im Langzeitgedächtnis speicherten, sondern sofort Suchstrategien aktivierten. Das führe dazu, dass selbst einfache Fragen nicht mehr aus dem eigenen Gedächtnis beantwortet würden. «Unser Gehirn ist keine Festplatte, die man einfach auslagern kann», so Korte. Lernen sei ein aktiver, die Struktur des Gehirns verändernder Prozess.

Digitale Medien sinnvoll einsetzen

Digitale Technologien bieten Lernchancen, sofern sie gezielt genutzt werden. Korte verweist auf ein Beispiel aus Litauen: In dieser hochdigitalisierten Gesellschaft würden digitale Endgeräte im Unterricht nicht genutzt, sondern ausschliesslich für individuelles Lernen ausserhalb der Schule eingesetzt. So könne Selbstwirksamkeit ohne mediale Überforderung gefördert werden. Korte betonte, dass es wichtig sei, die Mediennutzung an die kognitiven Bedürfnisse anzupassen, und machte dies an einem Beispiel deutlich: Untersuchungen zeigten, dass Inhalte aus gedruckten Büchern besser erinnert werden als aus E-Readern. Grund dafür sei die parallele Nutzung des Ortsgedächtnisses, das beim Blättern durch Seiten aktiviert werde. «Wir benutzen beim Erinnern die gleichen Hirnareale, mit denen wir uns im Raum orientieren », erklärt Korte. Das ermögliche es, Inhalte auch räumlich zu verankern.

Auch Hörbücher seien lernförderlich, besonders für Kinder. Sie müssten sich beim Hören selbst Bilder machen und Figuren im Arbeitsgedächtnis behalten. Das stärke sowohl Konzentration als auch Erinnerungsfähigkeit.

Martin Korte

Dr. Martin Korte ist Professor für zelluläre Neurobiologie und Dekan der Fakultät für Lebenswissenschaften an der Technischen Universität Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die zellulären Grundlagen von Lernen, Gedächtnis und Vergessen. Korte ist nicht nur akademisch tätig, sondern auch ein profilierter Wissenschaftskommunikator.

Was Lernende heute brauchen

Für effektives Lernen in einer digitalen Welt benötige es mehr als Zugang zu Informationen. Korte nannte zentrale Kompetenzfelder, auf die sich Bildung und Weiterbildung fokussieren sollten:

Buchtipp: «Frisch im Kopf»

Wer tiefer in die neurobiologischen Hintergründe des Lernens einsteigen möchte, dem sei Martin Kortes Buch «Frisch im Kopf. Wie wir uns aus der digitalen Reizüberflutung befreien» empfohlen.

Martin Korte stellt aktuelle Forschungsergebnisse zusammen und zeigt, wann digitale Medien dem Gehirn schaden – und wann sie nützen. Er räumt mit dem Mythos Multitasking auf, erklärt, wie Kinder digitale Kompetenzen entwickeln und wie Ältere geistig fit bleiben können. Mit vielen praktischen Tipps liefert Korte eine fundierte Orientierung für einen gesunden und produktiven Umgang mit digitalen Technologien im Alltag. Mit Abbildungen.
DVA, 2023, 320 Seiten, ISBN 978-3-421-04887-5

  • Selbstwahrnehmung und Selbstregulation, also in der Lage zu sein, eigene Gefühle und Verhaltensweisen erkennen und steuern zu können.
  • Die Fähigkeit, Beziehungen aufbauen und erhalten zu können, zu kommunizieren und zu kooperieren. Ein soziales Bewusstsein und die Fähigkeit, die Perspektive anderer einnehmen zu können.
  • Das Vermögen, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen.

Diese Kompetenzen deckten sich mit den Einschätzungen von Führungskräften aus der Wirtschaft, wie Umfragen zeigten, und hätten auch bereits Eingang in Bildungskonzepte gefunden.

Lernen durch Tun – nicht nur durch Technik

Korte erklärte, dass Lernprozesse aktivierender gestaltet werden müssten. Besonders hilfreich seien offene Aufgaben, bei denen keine vorgegebene Lösung existiere. Solche Formate förderten Kreativität, Problemlösefähigkeit und das sogenannte «Lernen lernen».

Die Verwendung von KI im Bildungsbereich müsse ebenfalls reflektiert werden. Der Einsatz solle nicht zu früh erfolgen, da Lernende zuerst die grundlegenden Denkalgorithmen eines Fachs verstehen sollten. Auch hier gelte: Nur wer weiss, wie Systeme funktionieren, kann KI-Antworten einschätzen.

Quelle
Keynote «Lernen, Erinnern und Vergessen mit digitalen Medien» von Prof. Dr. Martin Korte anlässlich des Learntec-Kongresses am 8. Mai 2025 in Karlsruhe. learntec.de

Take Aways

  • Lernprozesse sind nur dann erfolgreich, wenn sie die begrenzte Verarbeitungskapazität des Gehirns berücksichtigen.
  • Multitasking ist ineffizient und führt zu erheblichen Lern- und Konzentrationsverlusten.
  • Strukturierte Wissensvermittlung bleibt trotz KI und Internet essenziell, da Vorwissen neue Lernprozesse ermöglicht.
  • Zentrale Zukunftskompetenzen sind Selbstregulation, soziale Fähigkeiten und kritische Mediennutzung.
  • Aktives, emotional verankertes Lernen – ergänzt durch soziale Interaktion – ist nachhaltiger als passiver Konsum.

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