Studienpreview: Lernen – ein toter Winkel in der Führung?

Dienstag, 08. November 2022
Fortwährender Innovationsbedarf und Transformationsanstrengungen in der sogenannten «Arbeitswelt 4.0» sind eng verknüpft mit der kontinuierlichen Entwicklung von Wissen und Flexibilität der Mitarbeitenden. Lernen ist deshalb ein Schlüssel, um Veränderungskompetenzen zu erwerben. Eine Studie zeigt Widersprüchliches.

Das Institut für Angewandte Psychologie (IAP) der ZHAW führt im Rahmen seiner Untersuchung «Der Mensch in der Arbeitswelt 4.0» seit 2017 eine Studienreihe durch, die auf quantitativen Online-Umfragen und qualitativen strukturierten Interviews mit Führungs- und Fachkräften in Schweizer Unternehmen basiert.

Was wird unter Arbeitswelt 4.0 verstanden?

Arbeitswelt 4.0 steht für das Arbeiten während der laufenden vierten industriellen Revolution. Diese beinhaltet, dass über das mobile Internet und das «Internet der Dinge» ein neuer Teil unserer Lebens- und Arbeitswelten datentechnisch erfasst, vernetzt, ausgewertet und optimiert werden kann. Es entstehen neue Arbeitsprozesse, Geschäftsmodelle, Organisationsstrukturen, neue Berufsbilder und neue Anforderungen an Mitarbeitende.

In einem Preview wurden nun ausgewählte Ergebnisse der quantitativen Befragung 2022 von den Studienverantwortlichen des IAP präsentiert.

Frau Prof. Müller, welche Ergebnisse haben Sie überrascht?

«Eine positiv überraschende Erkenntnis ist, dass 85% der befragten Fach- und Führungskräfte Lernen als ganz selbstverständlich und in den beruflichen Alltag integriert bezeichnen. Leider fördern Unternehmen und Organisation Lernen nicht in umfassendem Masse. Sowohl HR als auch Führungskräfte verpassen es offenbar, ihren Mitarbeitenden Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Digitale Fähigkeiten der Mitarbeitenden werden wenig berücksichtig und auch individuelle Lernangebote kreieren nur sehr wenige Unternehmen.

Auffallend ist auch der grosse Gap zwischen dem Wunsch nach sozialem Austausch und Lernen der Befragten und der Tatsache, dass Lernen aktuell häufig allein und selbstgesteuert stattfindet. Hier steckt viel Potenzial für HR, Lernen in Arbeitsprozessen zu operationalisieren und zufälligen Austausch zu institutionalisieren. Neue Lerntechnologien (wie virtuelle 3D Kursräume oder Chatbots) eigenen sich dafür hervorragend, spielen aber aktuell kaum eine Rolle.»

Wider besseres Wissen?

Lernen als integraler Bestandteil eines heutigen Arbeitsverständnisses wird zwar von den Befragten gemeinhin bejaht (85%), die Realität der hohen Arbeitsbelastung unterminiert allerdings die guten Lernvorsätze: 49% realisieren ihre Fortbildungsziele nicht aus Zeitgründen. Gar nur 29% der Befragten gaben an, dass ihnen individuelle Möglichkeiten der Laufbahnentwicklung im Unternehmen aufgezeigt würden.

Die eingesetzten Lernformen mischen sich: Präsenzseminare, Videos, digitale Formate und Blended-Learning-Formate gehören heutzutage gleichberechtigt zum Repertoire. Auffällig ist, dass mobiles Lernen nur von 27% der Befragten genannt wurde, wenngleich 49% der Befragten angaben, dass sie vor allem Transfer- und Wartezeiten zum Lernen nutzten.

Häufig findet Lernen allein und selbstgesteuert statt (87%); im Team lernen nur 49% der Befragten häufiger. Auch diese Aussage überrascht, wird doch gleichzeitig von den Befragten das Lernen durch persönlichen Erfahrungsaustausch und Feedback als besonders effektiv eingestuft. Viele Unternehmen scheinen diesen Nutzen von Netzwerken innerhalb ihrer Organisation noch nicht erkannt zu haben; so geben etwa nur 49% der Befragten an, dass ihnen solche Netzwerke angeboten würden.

Lernformate, die komplexere Technologien wie Virtual oder Augmented Reality oder Chatbots einsetzen, erfreuen sich noch nicht allgemeiner Akzeptanz.

Rolle von HR und Personalentwicklung

Die Präsentatorin der Ergebnisse, Prof. Andrea Müller, führte aus, dass 52% der Befragten angaben, dass HR- und Personalentwicklungs-Verantwortliche in ihren Unternehmen aktuell Talente und Fähigkeiten nicht förderten.

Auch Trendbeobachtung im Bereich Lernen findet kaum im HR statt. Müller sieht in der Trendbeobachtung einen wichtigen strategischen Beitrag, den Personalentwickler für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens leisten müssten, und empfahl in ihrem Referat HR-Verantwortlichen eine intensivere Beschäftigung mit diesem Thema. Die Erwartungen an HR- und Personalentwicklungsverantwortliche im Hinblick auf Angebotsgestaltung von Lernformen und -inhalten werden jedoch hoch eingestuft – auch für die Zukunft. 94% der Befragten sehen für HR- und Personalentwicklungsverantwortliche eine aktivere Rolle bei der Gestaltung von Lern- und Entwicklungsprozessen.

In einer anschliessenden Podiumsdiskussion wurde die Rolle des HR im Bereich Lernen vertieft diskutiert. Müller warnte davor, das Thema Lernen den IT-Abteilungen zu überlassen. Es brauche spezielle Kompetenzen, um Lernangebote zu entwickeln. Auch müsse dem sehr effektiven sozialen Lernen eine Struktur gegeben werden, merkte Jürg Gabathuler von der ZHAW Angewandte Psychologie an. Homeoffice erschwere dies. Die Verantwortung für diese Strukturen und Angebote sei bereits in der HR-Rolle angelegt, waren sich die Diskutanten einig.

Im Spiegel der Mitarbeitenden

Wenig überraschend ist, dass Führungskräfte ihre gestaltende und unterstützende Rolle für die fachliche Förderung ihrer Mitarbeitenden positiver einstuften als eben diese das Engagement dafür wahrnehmen. Während 73% der Führungskräfte angaben, sich Zeit für Mitarbeiterentwicklung zu nehmen, stimmen nur 46% der Befragten ohne Führungsaufgaben dieser positiven Beurteilung zu.

Eine Ursache für diese Divergenz könnte in der unterschiedlichen Perspektive auf dieses Thema liegen, in der Bedürfnisse des Einzelnen und Bedürfnisse des Unternehmens nicht immer vollständig synchronisiert werden können.

Learnings

Ein Zwischenfazit zog die Studienpräsentatorin Julia Kornfeind mit folgenden Kurzempfehlungen für Unternehmen:

  • Lernen in Arbeitsprozessen sollte operationalisiert werden, d.h. als fester Bestandteil in Arbeitsprozesse implementiert werden.
  • Zufälligen Austausch zwischen Mitarbeitenden sollte man versuchen zu institutionalisieren: Unternehmen sollten Menschen zum Netzwerken bewegen. Analoge und digitale Gefässe bieten viele Möglichkeiten für Erfahrungsaustausch.
  • Mobile Learning bietet höhere Potenziale als bisher genutzt. Lernen immer und überall ist in mobilen Formen einfacher.
  • Laufbahnperspektiven sollten aufgezeigt werden: Personal zu binden ist in Zeiten des Fachkräftemangels unabdingbar, um Wettbewerbsvorteile zu schaffen.
  • Strategische Verankerung von Lernen wird erfolgskritisch: Eine Lernkultur sollte aktiv vorgelebt werden.
  • Lernförderliche Kompetenzen sollten gezielt gefördert werden, beispielsweise Selbstreflexion.
  • Die Aufgabenaufteilung für Lernen und Laufbahnentwicklung sollte zwischen HR und Führungskräften geklärt werden.

Download

Factsheet: IAB Studie 2022: «Lernen in der Arbeitswelt 4.0»

 

Studiensteckbrief

Quantitative Online-Umfrage (Teil 1)

  • Durchführung Mai bis Juli 2022
  • 174 Teilnehmende
  • 65% haben Führungsaufgaben
  • 37% arbeiten im HR-Management
  • 24% aus KMU, 60% aus Grossunternehmen
  • 88% unselbständige Erwerbstätigkeit
  • 70% haben mindestens einen Fachhochschulabschluss
  • 67 männlich, 102 weiblich, 4 non-binär

Strukturierte Interviews (Teil 2)

  • Durchführung Mai bis Mitte August 2022
  • N = 12
  • Unterschiedliche Branchen und Standorte in der Schweiz
  • Unternehmen mit Erfahrung in der digitalen Transformation

Funktionsgruppen:

  • Führung: 67%
  • Personalentwicklung: 33%
  • Human Resources: 33%
  • Organisationsentwicklung: 25%

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