Schafft neue Klassifikation ­für Schmerzstörungen Klarheit für Versicherungen?

Freitag, 26. Februar 2021 - Hildegard Nibel, Andreas Herold
In der Vergangenheit führten chronische Schmerzerkrankungen zu juristischen Verfahren. Die neue ICD-Version 11 könnte Veränderungen in der Begutachtung und Leistungsentschädigung der chronischen Schmerzstörungen bringen.

Chronische Schmerzpatientinnen ebenso wie viele ihrer Ärzte sind bis heute noch der Meinung, dass Schmerzen nur infolge einer körperlichen Schädigung entstehen können und die Stärke des Schmerzes dieser Schädigung entspricht. Schmerz wird als Warnsignal gedeutet, das uns vor weiterer körperlicher Schädigung schützen soll, beispielsweise wenn wir etwas Heisses berühren und dann reflexartig unsere Hand von der Wärmequelle zurückziehen. Ist die Verletzung und damit der Schmerz stärker, schonen wir uns, ziehen uns zurück und entlasten uns von Alltagspflichten.

Diese Vorstellung von Schmerz hat auch das Bundesgericht geteilt, insbesondere mit seinem Urteil aus dem Jahr 2012. Es hat gefordert, dass mit einer blossen Willensanstrengung die schmerzbedingten Einschränkungen überwunden werden können. Mit dem Urteil von 2015 wurde diese einseitige, wissenschaftlich schon längst nicht mehr haltbare Beurteilung revidiert, und chronische Schmerzen wurden als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt. Das Urteil wurde auf dem Hintergrund der Definition der Somatisierungsstörungen des ICD-10 (deutsche Ausgabe 2004) gefällt.

Somatisierungsstörungen sind andauernde, schwere und quälende Schmerzen, die sich nicht (ICD-10: F45.40) oder nicht vollumfänglich (ICD-10: F45.41) durch eine körperliche Schädigung erklären lassen. Die Diagnosekategorie ICD-10 F45 verlangt, dass psychosoziale Belastungen oder komorbide psychische Erkrankungen wie Ängste oder Depressionen entscheidend für das Entstehen und Aufrechterhalten des Schmerzes sind. Wenn nach kleinen, scheinbar unbedeutenden Unfällen Schmerzen und Leistungseinschränkungen persistieren, obwohl keine somatischen Befunde mehr zu erheben sind, erfordert diese Diagnosekategorie eine psychische Beteiligung. Für die Mehrzahl der Patienten (und Ärztinnen) ist eine psychische Verursachung des chronischen Schmerzes nur schwer verständlich. Insbesondere Patientinnen und Patienten verwehren sich gegen eine Psychologisierung ihrer Schmerzen, weil sie sich psychisch als voll funktionsfähig und belastbar erleben. Sie seien nicht psychisch krank, sie hätten «nur» Schmerzen.

Chronische Schmerzerkrankungen ohne Organsubstrat

Bei der Diagnose chronischer Schmerzerkrankungen (Schmerzen, die länger als sechs Monate ­andauern) kann weder ein nozizeptiver noch ein neuropathischer Befund als schmerzverursachend erhoben werden. Trotzdem leiden die betroffenen Patienten unter Dauerschmerzen, die durch medikamentöse oder invasive Massnahmen nicht hinreichend beeinflusst werden können. Aufgrund klinischer Beobachtungen wies Engel bereits 1959 darauf hin, dass sich bei chronischen Schmerzpatientinnen ohne nachweisbare Gewebeschädigung Vernachlässigung und Traumatisierung in der Kindheit auffallend häufen. Diese langfristig schädigenden körperlichen und seelischen Verletzungen sind nicht nur ein Unterschichtphänomen, wie wir es aufgrund der Urteile des Bundesgerichts erwarten, die häufig Rentenbegehren von Migranten betreffen. Belastende Kindheitserfahrungen finden sich auch am Zürichberg, bei wohlstandsverwahrlosten Kindern, wenn sie von häufig wechselndem Hauspersonal betreut werden und so keine tragfähigen Bindungen aufbauen können und wenig Positives in Beziehungen zu Hause erleben. Selbst- und Fremdverletzung in Form riskanter kosmetischer Prozeduren oder Extremsportarten kann eine Folge sein von sogenannten Adverse Childhood Experiences (ACE ; belastende Kindheitserfahrungen).

Die Nichtbeachtung der seelischen Auslöser für die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems hat in der Vergangenheit nicht selten zu iatrogener Chronifizierung mit Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit geführt und zu Familienleben, die sich nur noch um das Leiden drehen und damit die Lebensqualität aller Familienangehörigen deutlich mindert.

ICD

ICD ist die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und oft kurz auch als Internationale Klassifikation der Krankheiten bezeichnet.

Die zukünftige ICD-11 wurde nach Veröffentlichung einer ersten Version im Juni 2018 von der Weltgesundheitsversammlung im Mai 2019 verabschiedet und tritt am 1. Januar 2022 im deutschsprachigen Raum in Kraft. Die aktuelle, international gültige Ausgabe ist ICD-10-WHO Version 2019.

Quelle: Wikipedia, 3.2.2021

Mit der neuen ICD-11 die dysfunktionale Dichotomie von Körper und Seele überwinden

Mit der Umsetzung des biopsychosozialen Krankheitsmodells in der neuen Kategorie ICD-11:6C2ff werden psychosoziale Ursachen für Schmerzen gleichberechtig neben somatische gestellt. Die ICD-11 (Beta Draft, englische Version seit Mai 2019 in Kraft, deutsche Version 2022 erwartet) bietet eine umfassende Diagnosekategorie, die als «Disorders of bodily distress or bodily experience» bezeichnet wird und die ICD-10-Kategorie der Somatisierungsstörung F45 ff. ersetzt. Chronischer Schmerz ist ein Stressor, der – abhängig von den zur Verfügung stehenden Ressourcen – zu einer chronifizierten Stressreaktion (kognitiv, affektiv, physiologisch, behavioral) mit Krankheitswert führen kann.

Die Diagnose ICD11:6C2ff «körperliche Belastungsstörung» bedingt folgende Merkmale (Übersetzung der Autorin und des Autors):
1. das Vorhandensein von körperlichen Symptomen,
2. die für die Person belastend sind, und
3. durch übermässige Aufmerksamkeit, die auf die Symptome gerichtet ist,
4. was sich durch wiederholten Kontakt mit Gesundheitsdienstleistern manifestieren kann.
5. Der Grad der Aufmerksamkeit ist im Verhältnis zur Art der Schmerzen und zu deren Verlauf eindeutig übermässig.
6. Wenn ein medizinischer Zustand die Symptome verursacht oder zu ihnen beiträgt, wird die übermässige Aufmerksamkeit nicht durch angemessene klinische Untersuchungen und Therapieangebote und angemessene Beruhigung gemildert. Die körperlichen Symptome und der damit verbundene Leidensdruck sind anhaltend, d. h. sie sind an den meisten Tagen über mindestens mehrere Monate vorhanden und gehen mit einer erheblichen Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen einher.

Die neue ICD-11-Diagnose Bodily Distress Disorder anerkennt das Leiden der Patientinnen an ihren körperlichen Symptomen unabhängig von deren Ursachen. Dies erleichtert den therapeutischen Zugang zu chronischen Schmerzen und psychosomatischen Erkrankungen. Diese Diagnose entbindet Ärzte und Gutachterinnen jedoch nicht davon, eine biopsychosoziale Diagnostik lege artis durchzuführen, die sowohl somatische als auch psychische Funktionsveränderungen erkennt.

Patienten mit hoher psychischer Belastung können so rasch und relativ einfach identifiziert werden. Das sekundär- und tertiärpräventive Potenzial ist beträchtlich: Depressivität, Ängste und die Abnahme der Lebensqualität mit einer Minderung der Arbeitsfähigkeit können früher erkannt und positiv beeinflusst sowie hohe Kosten für unwirksame somatische Therapien vermieden werden.

Folgen fürs Versicherungssystem

In der Vergangenheit haben Versicherungen immer wieder versucht, Ansprüche von Versicherten abzuweisen mit der Begründung, dass deren Symptome keine Leistungen in ihrem speziellen Versicherungsbereich begründen. Beispielsweise lehnten Unfallversicherungen bei Patienten mit chronischen Schmerzen Leistungen ab mit der Begründung, es handle sich um eine psychisch unangemessene Verarbeitung des Unfallgeschehens und sei damit keine entschädigungspflichtige Unfallfolge. Oder das Sozialamt schickte Versicherte zum RAV mit der Begründung, die psychosozialen Belastungen seien nicht so einschneidend, dass sie eine Erwerbstätigkeit verunmöglichen.

Mit der Umsetzung der ICD-11 können die teuren juristischen Eskalationen mit den teilweise krankmachenden Abgrenzungen der Versicherungszweige aufgelöst werden. Die dadurch frei werdenden Ressourcen sollten für wirksame institutionelle Unterstützung genutzt werden, angefangen bei der Entlastung von Familien für Betreuungs- und Pflegeaufgaben über kurzfristig verfügbare psychotherapeutische Angebote in Krisensituationen bis hin zu Selbsthilfeangeboten. Insbesondere könnten neue technische Möglichkeiten sinnvoll eingesetzt werden in Abhängigkeit von Krankheitsvorstellungen und Selbstwirksamkeitserwartungen der Versicherten, z. B. Biofeedback, internetbasierte Psychotherapieprogramme, sehr kurzfristig verfügbare Psychotherapie in Video-Sitzungen bis hin zu Selbsthilfeprogrammen wie dem neurogenen Zittern (TRE) oder der «Klopftechnik» (Emotional Freedom Technique EFT). Letztere gilt in den USA und in Grossbritannien inzwischen als Goldstandard für die Therapie von Ängsten und Panikstörungen.


Wissenschaftliche Nachweise

1. Egloff, N., Müller, D., Blättler, L. & Steiger, B. (2020). Aversive Kindheitsbelastungen und ihre Implikationen für die medizinische Begutachtung am Beispiel chronischer Schmerzzustände. Therapeutische Umschau, 77 (3), 111–115.
2. Nibel, H. & Herold, A. (2021). Neue, körperorientierte Selbsthilfetechniken in der Traumatherapie: Klopfen, Hören, Schauen, Schütteln. Wehrmedizinische Monatsschrift 65 (2), S. 83–85.
3. Nibel, H. & Fischer, K. (2020). Neurogenes Zittern. Stuttgart: Trias/Thieme.
4. Orchard, C., Carnide, N. & Smith, P. (2019). How does Perceived Fairness in the Workers΄Compensation Claims Process Affect Mental Health Following a Workplace Injury? Journal of Occupational Rehabilitation 30, 40–48.

Take-Aways

  • Chronische Schmerzerkrankungen lassen sich oft nicht (ausschliesslich) auf eine körperliche Schädigung zurückführen. Sie treten häufig bei Patientinnen und Patienten auf, die Traumata in der Kindheit erlebten.
  • Mit ICD-11: 6C2ff wird die neue Diagnose «körperliche Belastungsstörung» eingeführt. Sie anerkennt das Leiden unabhängig von der Ursache.
  • Dies könnte einen einfacheren Zugang
    zur Therapie ermöglichen und in der Folge die Sozialversicherungen und Gerichte möglicherweise entlasten.

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