Es ist noch nicht allzu lange her, da wurden bei meinem damaligen Arbeitgeber Änderungen in der Geschäftsleitung verkündet. Der Verwaltungsratspräsident, ein pensionierter Banker, lud zur virtuellen Belegschaftsversammlung. Stolz teilte er mit, dass man Geschäftsführung und Leitung Finanzen innerhalb der Geschäftsleitung neu besetzen werde. Der neue Geschäftsführer sei Anfang 40, aktuell in verantwortungsvoller Funktion in einem börsenkotierten Konzern tätig und bringe umfangreiche Branchenerfahrung mit. Die Leitung Finanzen werde mit einer Frau besetzt. Diese sei Ende 30, Mutter eines Kleinkinds und werde die Geschäftsleitung in einem Pensum von 80% ergänzen. Man sei also «auch in Sachen Quote gut unterwegs».
Unnötig zu erwähnen, dass ein Shitstorm durch die Belegschaft fegte. Bei Frauen mit Kindern (suggeriert er Mütter seien weniger leistungsbereit?!), bei Frauen ohne Kinder (zählt die Teilnahme am Geburtsvorbereitungskurs neuerdings als berufliche Weiterbildung?!) sowie bei Männern (seit wann wird nicht mehr nach Qualifikation, sondern nach Quote besetzt?!).
Das Beispiel zeigt die Absurdität und Widersprüchlichkeit im Umgang mit Frauen in der Arbeitswelt. Denn was gut gemeint sein mag, ist weiterhin alles andere als gut. Rahmenbedingungen, Zielsetzung und Umsetzung der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt liegen so weit auseinander, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft das ganze Spektrum an Schönfärberei ausschöpfen müssen, um ihre Erklärungsnot zu übertünchen. Ein viel besserer Ausweg aber wäre, sich der unangenehmen Wahrheit zu stellen und mit altem Irrglauben aufzuräumen.
Irrglaube 1: Die Schweiz steht vergleichsweise gut da
Anfang März erschien der jährliche «The Economist’s Glass-Ceiling Index». Er untersucht Rolle und Einfluss von Frauen in der Arbeitswelt der 29 OECD-Länder. Gut da steht die Schweiz nur dann, wenn man sie mit der Türkei, Japan und Südkorea vergleicht. Oder wenn man «Stabilität» in diesem Zusammenhang als vorteilhaft werten möchte. Denn die Schweiz liegt seit 2016 auf einem stabilen Platz 26 von 29 vor den 3 genannten Ländern. Autsch.
Irrglaube 2: Männer und Frauen in der Schweiz haben längst gleiche Chancen
Zugegeben, dass Männer und Frauen gleich sind, steht in der Schweizer Bundesverfassung. Unbestritten auch, dass beide inzwischen gleichermassen Zugang zu Bildung haben, wovon Frauen sogar intensiver Gebrauch machen als Männer. Mit Übergabe des Abschlusszeugnisses ist es dann aber meist auch vorbei mit der Chancengleichheit. Jedenfalls haben Männer deutlich schlechtere Chancen, eine unbezahlte Arbeit zu ergattern. Kindererziehung, Pflege von Familienangehörigen, Kochen, Putzen und Gartenarbeit – bei unentgeltlichen Ehrenämtern, die sich nicht am Stammtisch oder im Vereinshaus abspielen, haben Männer noch immer das Nachsehen.
Irrglaube 3: Frauen sind selber schuld
Womit wir bei dem irrigen Glauben angelangt wären, dass Frauen an ihrer beruflichen Situation – den Lohnunterschieden, der Teilzeitfalle, ausbleibenden Beförderungen und den Lücken in ihrer beruflichen Vorsorge – selbst schuld seien. Sie würden eben schlecht verhandeln. Sie würden ja gar keine Personalverantwortung übernehmen wollen. Was auf den ersten Blick nach einem individuellen Defizit aussieht, ist in Wahrheit ein gesellschaftliches. Denn es sind gesellschaftliche Erwartungen – Klischees und Geschlechterstereotype – die darüber entscheiden, welche Verhaltensweisen im Berufsalltag typisch und wünschenswert für Männer bzw. Frauen sind. Wer von diesen Erwartungen abweicht, verletzt eine gesellschaftliche Norm und wird dafür von anderen negativ bewertet und ausgegrenzt. Für Verhandlungen beispielsweise ist es hilfreich, durchsetzungsstarkes und dominantes Verhalten zu zeigen. Diese Verhaltensweisen passen somit genau zu den Erwartungen, die an Männer, widersprechen aber den Erwartungen, die an Frauen gestellt werden. Frauen verhandeln somit nicht schlecht, sondern im Rahmen dessen, was die Gesellschaft ihnen zugesteht, ohne dass sie ausgegrenzt werden.
Irrglaube 4: Die Schweiz hat wichtigere Probleme
Vielfach belegt und erwiesen ist der Zusammenhang zwischen Diversität und Geschäftserfolg. Unternehmen mit hoher Gender-Diversität haben eine um 25% grössere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Und gerade in Krisenzeiten erweisen sich gemischte Führungsteams als entscheidend. Wenn die Schweiz ihren Wohlstand sichern und für kommende Herausforderungen gewachsen sein will, dann sollte sie sich endlich ihr Sternchen fürs Gendern sichern.
Vom Glauben ab- und ins Handeln kommen
Blickt man den Tatsachen ins Auge, stellt sich umso drängender die Frage, was getan werden muss und kann. Hier liegt uns – aus dem eigenen, aber auch anderen Ländern – zwischenzeitlich ein Fundus an Studien vor. Diese liefern, mehr oder weniger aussagekräftig respektive widerspruchsfrei, Hinweise darauf, welche Hausaufgaben Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dringend machen sollten.
Aufgabe 1: Vom Fördern zum Befördern übergehen
Viele Unternehmen in der Schweiz haben in den vergangenen Jahren Frauenförderprogramme aufgelegt und ihren weiblichen Hoffnungsträgerinnen entsprechende Aufmerksamkeit und Schulungen zuteilwerden lassen. Das ist gut gemeint und keinesfalls wirkungslos. Doch während Frauen eifrig gefördert wurden, hat man ihre männlichen Pendants weiter schlicht befördert. Indem man sich der Frau als defizitärem Wesen gewidmet hat, hat der Status quo einmal mehr Aufschub erhalten. Zumindest hat sich beim Frauenanteil in Führungspositionen aller wohlmeinenden Förderung zum Trotz bis dato (zu) wenig getan. Es dürfte an der Zeit sein, vom Fördern zum Be-fördern überzugehen.
Aufgabe 2: Den Weg des geringsten Widerstands verlassen
Sind Gremien und Teams erst einmal durchmischter, wird die Zusammenarbeit anstrengender. Durchmischung schafft keine Harmonie, sondern erfordert Energie. Nicht nur während der anfänglichen Findungsphase im Team, sondern dauerhaft. Es ist deutlich einfacher, Entscheidungen in einer homogenen Gruppe zu treffen, in der ohnehin alle einer Meinung sind. Entscheidend für den Geschäftserfolg aber ist, dass im Unternehmen möglichst verschiedene Stimmen gehört und unerwartete Fragen gestellt und bearbeitet werden. Damit das funktioniert, müssen Führungskräfte viel Zeit investieren, um für «psychische Sicherheit» zu sorgen. Nur wer Gewissheit hat, dass die Kolleginnen und Kollegen eben nicht mit den Augen rollen, wird sich abseits von Klischees mit Fragen und Ideen einbringen.
Aufgabe 3: Teilzeit zu Vollzeit machen
Wer seine Arbeit gut und gerne wahrnehmen können soll, braucht dafür bestimmte Voraussetzungen. Ausgeglichenheit dank Sport, Schlaf und gesunder Ernährung zählt ebenso dazu wie ein lebendiges Sozialleben und die Ausübung von gemeinnützigen Tätigkeiten oder auch Fürsorgeaufgaben. All dem gemeinsam ist das Erfordernis der Zeit. Immer mehr Mitarbeitende wünschen sich deshalb ein reduziertes Arbeitspensum, immer mehr Arbeitgebende experimentieren mit der Viertagewoche und Island hat 2021 gar die 35-Stunden-Woche eingeführt. Wer von seinem Arbeitgeber also zu hören bekommt, dass Führungsverantwortung nur in Vollzeit machbar sei, der möge getrost darauf verweisen, dass das im Norden nachweislich auch bei 80% funktioniert. Denn was Voll- und was Teilzeit ist, bleibt letztlich relativ.
Aufgabe 4: Arbeitszeit ermöglichen
Wo Zeit zum Ausdruck von Freiheit, beruflicher Selbstverwirklichung und sozialer Gerechtigkeit wird, da sind Vereinbarkeitsfragen nicht fern. Dass Frauen sich mit der Fürsorgeverantwortung heute so oft allein gelassen sehen, ist kein Gender-Thema, sondern ein politischer Entscheid. Ein System, das sich nicht ändert, ist gewollt. Insofern erweist sich beispielsweise die zuletzt kontrovers diskutierte Frage, ob Kita-Subventionen die Erwerbsquote von Müttern erhöhen, als eigentlich irrelevant. Im Vordergrund familienpolitischer Massnahmen stehen nicht wirtschaftspolitische Kosten-Nutzen-Überlegungen. Im Vordergrund stehen gleiche Chancen und Ausgangsbedingungen für alle Mitglieder unserer Gesellschaft – und somit auch die nötigen Voraussetzungen und Wahlmöglichkeiten für Menschen mit Fürsorgeverantwortung.
Trotz Aufgaben nicht aufgeben
Keine der beschriebenen Aufgaben hätte den eingangs erwähnten Verwaltungsratspräsidenten vor dem Shitstorm bewahrt. Denn am musealen Gedankengut in den Teppichetagen wird keine der Massnahmen und wird auch kein Frauenförderprogramm etwas ändern können. Deswegen ist und bleibt die Quote, so unbeliebt sie sein mag, wichtig. Sie zwingt uns, unsere individuell wie auch gesamtgesellschaftlich wichtigste Aufgabe wahrzunehmen: Unser eigenes Gedankenmuseum von Zeit zu Zeit abzustauben und das Licht der Neuzeit hereinlassen.
Take Aways
- Die Chancengleichheit von Frau und Mann ist in
der Verfassung verankert. In der Arbeitswelt ist sie noch nicht angekommen. Im internationalen Vergleich hinkt die Schweiz hinterher.
- Damit Frauen am Arbeitsleben gleichberechtigt teilnehmen können, muss der gesellschaftliche Wandel weitergehen. Dazu gehört auch, dass Männer sich gleichberechtigt an Haushalts- und Fürsorgearbeit beteiligen und Arbeitszeitstrukturen hinterfragt werden.
- Der Einsatz für Gender-Diversität lohnt sich für die Unternehmen. Die Wahrscheinlichkeit für überdurchschnittliche Profitabilität steigt mit gemischtgeschlechtlichen Teams.
- Bis die Gesellschaft weit genug ist und diversifizierte Führungsetagen normal sind, unterstützt die unbeliebte Quote beim nötigen Umdenken.