Die Personalgewinnung steht vor einem fundamentalen Wandel. Angesichts akuten Fachkräftemangels, überlasteter HR-Teams und hoher Erwartungen an Schnelligkeit und Qualität wird Recruiting zur strategischen Herausforderung. Hinzu kommt: Viele Prozesse sind nach wie vor manuell, fragmentiert und nicht skalierbar.
Gleichzeitig entwickelt sich der Markt für KI-gestützte Technologien rasant. Tools für automatisiertes Sourcing, datenbasiertes Matching oder personalisierte Kommunikation versprechen Entlastung – und werfen neue Fragen auf: Was funktioniert in der Praxis? Wie gelingt der Einstieg? Und welche ethischen Grenzen braucht es?
Antworten auf diese Fragen liefert die von spoton.ch organisierte HR Tech Night am Donnerstag, 26. Juni 2025 in der Photobastei Zürich. Die Veranstaltung versammelt Vordenkerinnen und Vordenker, Anbieterinnen und Anbieter und HR-Professionals aus der Praxis zum Austausch über das Thema «KI & neue Technologien im Recruiting» – praxisnah, kritisch und inspirierend.
Als Moderator führt Cornel Müller durch den Abend. Als langjähriger Entrepreneur im Bereich HR Tech und Gründer von Plattformen wie jobchannel.ch, x28 und Work-ID.ch sowie Founder & Board Member der Future of Work Group AG, bringt er fundiertes Wissen aus den Bereichen Future Work, Smart Work Data, Talent Management Intelligence und Skills Management mit. Seine These: «Recruiting muss fluide werden – statt reaktiv Stellen zu besetzen, sollten Unternehmen Skills, Potenziale und Bedarf kontinuierlich miteinander abgleichen. KI kann diese Matches vordenken und dadurch echte Beweglichkeit schaffen.»
Im Dialog mit den Speakerinnen und Speakern sowie im Austausch mit dem Fachpublikum legt Cornel Müller an dieser HR Tech Night den Fokus auf das Zusammenspiel von Technologie und Strategie und will anhand von 5 Thesen gemeinsam unter anderem folgende Fragen untersuchen: Wie lassen sich Tools sinnvoll in die Unternehmensrealität integrieren? Welche Rolle spielen Daten im Recruiting-Prozess? Und wie verändert sich die Arbeit von HR durch diese Entwicklungen?
These 1: Skill-Based-Hiring – der notwendige Perspektivwechsel
Im modernen Recruiting gewinnen Kompetenzen zunehmend an Bedeutung – klassische Lebensläufe und lineare Karrierepfade verlieren an Aussagekraft. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, nicht nur Positionen zu besetzen, sondern auch Potenziale zu erkennen. Skill-Based-Hiring ermöglicht genau das: einen Fokus auf Fähigkeiten, anstatt auf Titel, Abschlüsse oder Herkunft.
Dieser Ansatz fördert die Chancengleichheit, eröffnet neue Talentpools und unterstützt eine inklusivere Personalgewinnung. Gleichzeitig verlangt er eine systematische Umstellung in der Erfassung, Bewertung und Kommunikation von Skills – sowohl auf Seite der Kandidierenden - als auch auf Unternehmensseite. Gerade in Verbindung mit KI-basierten Tools wird es möglich, Talente objektiver zu bewerten und übersehene Potenziale sichtbar zu machen.
These 2: Recruiting wird fluide – weg vom Prozess, hin zum Flow
Mit dem Aufkommen intelligenter Talentplattformen wandelt sich das Verständnis von Recruiting: weg vom reaktiven Besetzen offener Stellen, hin zu einem kontinuierlichen, dynamischen Matching von Kompetenzen und Unternehmensbedarfen. Möglich wird das durch KI-gestützte Systeme, die Skills, Potenziale und Verfügbarkeiten analysieren – auch intern, unter Alumni oder bei Freelancern.
So entstehen fluide Talentnetzwerke, in denen Menschen basierend auf Fähigkeiten und Lernpotenzialen mobil eingesetzt werden können. Dieser «Flow»-Ansatz ersetzt den linearen Bewerbungsprozess und eröffnet neue Wege für internes Recruiting, Upskilling und strategische Workforce-Planung.
These 3: Technologie als Partner – nicht als Ersatz
KI kann im Recruiting erhebliche Entlastung bringen – etwa durch automatisierte Vorselektion, gezieltes Matching oder intelligente Kommunikation. Der operative Nutzen liegt auf der Hand: schnellere Prozesse, geringere Kosten, bessere Datenlage.
Gleichzeitig verändert KI die Rolle der Recruiting-Professionals: Weg vom reinen Prozessmanagement, hin zu strategischer Beratung, Stakeholder-Kommunikation und Kulturentwicklung. Technologie übernimmt repetitive Aufgaben – Menschen gestalten Beziehungen. Entscheidend ist dabei: Die Tools müssen eingebettet sein in ein HR-System, das Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Lernbereitschaft fördert.
These 4: Recruiting braucht einen kulturellen Wandel
Die Einführung neuer Technologien allein reicht nicht aus, um Recruiting nachhaltig zu verbessern. Sie muss von einem kulturellen Wandel begleitet werden, der Vertrauen, Offenheit und Veränderungsbereitschaft in den Vordergrund stellt. Die bisherige Orientierung an starren Stellenprofilen und linearen Bewerbungsprozessen wird zunehmend von flexibleren, dynamischeren Systemen abgelöst.
Damit Recruiting-Teams die Möglichkeiten von KI und datenbasierten Tools sinnvoll nutzen können, braucht es neue Rollenverständnisse: HR als Gestalterin von Verbindungen, als strategische Partnerin und als kulturelle Vermittlerin. Gleichzeitig müssen ethische Prinzipien wie Fairness, Transparenz und Datenschutz bei der Integration von KI konsequent mitgedacht und implementiert werden. Nur so lässt sich Vertrauen aufbauen – bei den Kandidierenden, Mitarbeitenden und Führungskräften.
These 5: KI ist nicht neutral – sie braucht Regeln
Ein zentraler Punkt, der oft unterschätzt wird: Künstliche Intelligenz ist nie neutral. Sie basiert auf Daten – und damit auf menschlichen Entscheidungen, Annahmen und potenziellen Verzerrungen. Ein aktueller Bericht zum ethischen Einsatz von KI im Recruiting fordert daher klare Leitplanken für Technologieanbieterinnen und Unternehmen.
Im Zentrum stehen Prinzipien wie Transparenz, Fairness, Datenschutz und Rechenschaftspflicht. Nur wenn Bewerbende nachvollziehen können, wie KI-basierte Entscheidungen getroffen werden, kann Vertrauen entstehen. Gleichzeitig müssen HR-Teams die Verantwortung übernehmen, Systeme laufend zu hinterfragen, zu justieren – und nicht blind auf algorithmische Empfehlungen zu vertrauen.