Familienbegriff in den Sozialversicherungen

Dienstag, 07. Dezember 2021 - Gregor Gubser
Heute gibt es diverse Familienformen. In der sozialen Sicherheit spielt die Familie eine wichtige Rolle, doch je nach Versicherungszweig wird sie unterschiedlich definiert, was die Leistungen beeinflusst.

«Was für ein Bild sehen Sie vor dem inneren Auge, wenn Sie den Begriff Familie hören?» Mit dieser rhetorischen Frage eröffnete Prof. Dorothee Guggisberg, Direktorin Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, den 9. Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik. Die Bandbreite möglicher Antworten ist gross: Zwei Mütter oder Väter mit Kindern; eine Mutter und ein Vater mit einem Kind; Onkel, Tanten oder Grosseltern, die sich um Kinder kümmern; Verwandte, mit denen man nichts mehr zu tun haben will; Heim- oder WG-Mitbewohnende. Das Verständnis von Familie befinde sich in einem im Wandel und werde sowohl individuell als auch durch Gesellschaft und Politik geprägt, führte die Referentin weiter aus. Eine Familie könne über biologische Verwandtschaft oder soziale Bindung definiert sein und von Dauer oder nur temporär sein. Eine mögliche Definition von Familie hat die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) formuliert (siehe Kasten).

Definition von Familie gemäss EKFF

«Der Begriff der Familie bezeichnet jene Lebensformen, die in den Beziehungen von Eltern und Kindern im Mehrgenerationenverbund begründet und gesellschaftlich anerkannt sind.»

Diese Definition ist laut der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF) bewusst offen gehalten: Sie verzichtet auf wertende Aussagen und trägt der Vielfalt der Familienformen und dem wandelnden Verständnis von Familie Rechnung. Die Definition bringe auch den Doppelcharakter der Familie zum Ausdruck. Die Feststellung, dass Familie in den Beziehungen von Eltern und Kindern begründet sei, weise auf den privaten Charakter der Familie hin. Familie sei aber nicht nur Privatsache. Familie sei auch eine soziale und kulturelle Aufgabe, die in der menschlichen Natur angelegt sei. Sie sei von grundlegender Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Familie sei deshalb auch eine soziale Institution. Als solche bedürfe sie der gesellschaftlichen Anerkennung und Unterstützung.

Diese Definition vermeide eine Konzentration auf die junge Familie; sie berücksichtige damit, dass sich Familien in Phasen entwickeln (Familienphasen) und die familialen Lebensformen mit den Lebenszyklen zusammenhängen, führt die EKFF dazu aus.

Die strukturellen Anpassungen hinken naturgemäss einem sich wandelnden Familienbild hinterher. Die soziale Sicherheit der Schweiz basiere zum Grossteil noch auf dem klassischen Familienverständnis. Doch seien bereits Anpassungen erfolgt.

Veränderte Familienformen in Statistik und Gesetzgebung

Wie sich die Veränderung der Familienbilder in der Statistik und in der Gesetzgebung zeigt, hat Prof. Dr. Andrea Büchler, Lehrstuhl für Privatrecht und Rechtsvergleichung Universität Zürich, nachgezeichnet. Nach wie vor sei die Ehe ein zentrales rechtliches Kriterium für die Definition der Familie. Sie sei zurzeit eine alternativlose Bedingung für die Samenspende, die Adoption oder Hinterlassenenrenten. Dennoch habe die Ehe an Bedeutung verloren. Die Zahl der Eheschliessungen nehme ab und geheiratet wird erst in einem höheren Alter als früher. Zudem würden rund 40% der Ehen geschieden. Weitverbreitet sei die Ehe noch, wenn Kinder im Spiel sind. Die Mehrheit (74.2%) der Familienhaushalte setze sich aus einem verheirateten Paar mit Kindern zusammen, während knapp 10% als Konsensualpaar mit Kindern erfasst werden. 16.2% Familien seien Einelternhaushalte und 0.1% gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern.

Nicht nur die Zusammensetzung der Familien verändere sich, sondern auch die Rollenverteilungen. Büchler erläuterte, dass man in der Statistik sowohl Beweise für ein Festhalten an traditionellen Familienbildern finde – der Mann bleibe der (Haupt-)Ernährer der Familie –, als auch für Veränderungen; so sei es die Regel, dass die Partnerin zumindest Teilzeit erwerbstätig sei (siehe Grafik).

Eine Veränderung des Familienverständnisses zeige sich neben der Statistik auch in der Gesetzgebung, führte Büchler weiter aus. Die Grundlagen des Familienrechts wurden 1912 gelegt; an diesen änderte bis zur Einführung des Adoptionsrechts 1973 kaum etwas. Seitdem wurden allerdings regelmässig Anpassungen bis zur «Ehe für alle» vorgenommen, die im Sommer 2022 in Kraft treten werde. Die Vorstellung von Familie im Recht entwickele sich von der Ehe zur Lebensgemeinschaft, weg vom Institutionenschutz und der Zementierung patriarchaler Ordnung mit entsprechender Rollenerwartung hin zu Geschlechtergleichstellung und Rollenvielfalt, attestierte Büchler diesen Reformen.

Blicke man in die Zukunft, müsse man die Ehe als Referenzkonstrukt für familienrechtliche Regelungen überdenken. Entscheidend sollten gelebte Beziehungen sein und nicht der standesamtliche Status. Funktion und Inhalt sollten die Form ersetzen, schloss Büchler ihren Vortrag.

Unterschiedliche Gewichtung der Familie in der sozialen Sicherheit

Sozialversicherungen, Sozialhilfe und weitere Bedarfsleistungen knüpften auf vielfältige Weise an Familienformen und -normen an, erklärte Prof. Peter Mösch Payot, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Nach wie vor nehme die soziale Sicherheit stark Bezug zum Grundmodell der Ein-Verdiener-Familie mit mittelständischem Lohn sowie Eltern mit Kindern. Grundsätzlich bestehe aber ein individueller Anspruch auf Leistung. Zudem seien das Versicherungsprinzip sowie die Erwerbsorientierung zentral. Das führe dazu, dass sich unterschiedliche Erwerbstätigkeit (Teilzeit, Erwerbsunterbrüche) auf die Sozialleistungen auswirke.

Innerhalb der sozialen Sicherheit werde uneinheitlich beurteilt, was als Familie gelte. Häufig werde an zivilrechtliche Tatbestände angeknüpft, sprich an Ehe, eingetragene Partnerschaft und Kindesverhältnis. Zudem spiele in einigen Fällen auch die rechtstatsächliche Nahebeziehung eine Rolle: objektiviert, sprich nach aussen sichtbar wie ein gemeinsamer Haushalt, oder subjektiv durch eine Wahl oder Rechtserklärung der Betroffenen. Beispielsweise erhielten Kinder im zivilrechtlichen Sinn, aber auch Findel- und Pflegekinder, die untentgeltlich aufgenommen werden, Waisen- oder Kinderrenten der AHV/IV.

Starke Unterschiede zwischen den Institutionen der sozialen Sicherheit mache beispielsweise der Vergleich von Ergänzungsleistungen (EL) und Sozialhilfe (SH) deutlich, den Dr. Alexander Suter, Leiter Fachbereich Recht und Beratung bei der SKOS, in seinem Workshop darstellt: Sind die Eltern einer Familie mit zwei Kindern verheiratet, werden zur Bedarfsermittlung in EL und SH sowohl alle Einkünfte als auch alle (anrechenbaren) Ausgaben der ganzen Familie berücksichtigt. Leben die Eltern aber im Konkubinat, tun sich Unterschiede auf. Hat Elternteil 1 (die Mutter) Anspruch auf EL, werden nur ihre Einkünfte für die Ermittlung des Grundbedarfs von ihr und den beiden Kindern einbezogen. In der SH hingegen wird von einem Dreipersonen-Bedarf in einem Vierpersonen-Haushalt ausgegangen, wodurch ihr Bedarf an Wohnkosten kleingerechnet wird. Zudem wird das Einkommen des Partners in «angemessener Weise» berücksichtigt. Dadurch wird ihr Sozialhilfeanspruch – der im Vergleich zum EL-Anspruch ohnehin geringer ausfällt – nochmals kleiner.

Diese inkohärente Berücksichtigung von Familienmodellen sei nicht sinnvoll, so Mösch Payot; er regte an, im allgemeinen Teil des Sozialversicherungsgesetzes (ATSG) eine einheitliche Definition und eine materielle Koordination einzupflegen – wobei die Ungleichheit zur Sozialhilfe damit nicht beseitigt werden könne, da die Sozialhilfe nicht dem ATSG unterstehe.

Politik nimmt Veränderungen wahr

Die aktuellen Gesetze hinken der realen Lebenswelt der Familien zwar hinterher. Aber sowohl Peter Mösch Payot als auch Astid Wüthrich, Vizedirektorin des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), zeigten in ihren Referaten, dass sowohl in jüngerer Vergangenheit Anpassungen gemacht wurden, als auch weitere Vorstösse in der parlamentarischen Beratung stecken.

Als entscheidende Änderungen, die die sich wandelnden Familienbegriffe und -modelle begleitet haben, nannten sie zum Beispiel:

  • Erziehungsgutschriften (10. AHV-Revision)
  • Mutterschaftsentschädigung (Mutterschaftsurlaub, 2005)
  • Familienzulagen (2006)
  • Vaterschaftsurlaub (2021)

Reformen zur Ehe für alle, Adoptionsurlaub, steuerliche Entlastung von Betreuungskosten, Individualbesteuerung, Elternzeit oder EL für Familien (in ausgewählten Kantonen) seien bereits auf dem Weg.

Die Referenten waren sich einig, dass es Aufgabe der Politik sei, das System der sozialen Sicherheit neuen Gegebenheiten anzupassen, um Familien gleichberechtig und kohärent abzusichern.

Weitere Informationen zum Kongress, den Referentinnen und Referenten sowie Präsentationen.

Take-Aways

  • Wurde in der Vergangenheit die Familie primär über den zivilrechtlichen Status der Ehe definiert, orientiert sich die Gesellschaft heute mehr an den realen Konstellationen. Diese sind vielfältig: Patchwork-Familien, Konkubinatspaare, Einelternhaushalte.
  • Auch die Rollenverteilung innerhalb der Familie hat sich gewandelt. Weiterhin ist in der Regel der Mann der Hauptverdiener, aber dass die Partnerin keiner Erwerbstätigkeit nachgeht ist selten geworden.
  • Diese Veränderungen schlagen sich langsam in der Gesetzgebung und der Praxis der sozialen Sicherheit nieder.

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