Sind die Heilung und die Eingliederung bei Betroffenen mit psychischen Krankheiten schwieriger als bei anderen Erkrankungen?
Kunz: Zur Heilung müsste man die Mediziner fragen. Für die berufliche Eingliederung gilt, dass wir immer den Einzelfall betrachten. Die Eingliederung ist bei psychischen Krankheitsbildern anspruchsvoller als bei somatischen, weil sie für Arbeitgebende schwieriger fassbar sind. Wenn jemand eine Rückenverletzung hat, kann man klar umschreiben, was eine Person noch leisten kann. Zum Beispiel nur ein gewisses Gewicht heben. Das ist leichter verständlich und auch leichter einzuhalten. Personen mit einer psychischen Erkrankung können in manchen Situationen weniger flexibel oder anpassungsfähig sein, haben möglicherweise grössere Schwierigkeiten bei sozialen Interaktionen oder finden komplexe Gespräche oder Multitasking herausfordernder. Das ist für Arbeitgebende schwieriger greifbar. Sie stehen vor der Frage, wie weit sie die Mitarbeitenden fordern können und wann sie sie überfordern. Die Arbeitgebenden sind bemüht, ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen. Sie wollen das Beste für die Mitarbeitenden. Letztlich lassen sie sich seltener auf eine Eingliederung ein, weil sie die Konsequenzen schlechter abschätzen können und Angst haben, dem Individuum nicht gerecht zu werden. Dazu kommt, dass es für psychisch Erkrankte in akuten Phasen schwieriger sein kann, Grundlagen wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit konsequent einzuhalten.
Warum konnte die Zahl von IV-Bezügern mit Krankheiten an Knochen und Bewegungsorganen währenddessen halbiert werden?
Tinner: Auch bei somatischen Erkrankungen stellt sich immer zuerst die Frage, ob eine Arbeitsplatzanpassung oder Umschulung angezeigt ist. Betroffene Personen mit somatischen Beschwerden verfügen in der Regel über die Voraussetzungen für eine Umschulung wie Flexibilität und Belastbarkeit. Für einen Arbeitgeber ist es eventuell leichter verständlich, dass ein Maurer nicht mehr auf dem Bau arbeiten kann, weil er z.B. regelmässig sitzen können muss oder nicht mehr schwer heben kann. Für Arbeitgebende sind solche Anpassungen am Arbeitsplatz einfacher umzusetzen, gerade in grossen Betrieben.
Was sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren bei der Eingliederung?
Kunz: Der wichtigste Faktor ist die Motivation der betroffenen Person. Das ist in der Regel auch gegeben, denn die Person will arbeiten und sich in den Arbeitsmarkt integrieren. Ohne Motivation geht es nicht, denn der Eingliederungsweg ist nicht einfach. Auf unserer Seite ist ein systemischer Blickwinkel entscheidend. Wir binden alle Player ein. Das heisst nicht nur die betroffene Person und die IV, sondern vor allem den Arbeitgeber, aber auch andere Sozialversicherungen, Ärzte, Case Manager und Beratungsstellen bis hin zu gesetzlichen Vertretungen. In dieser interdisziplinären Arbeit schaffen wir Perspektiven und erkennen Ressourcen. Nicht die Defizite stehen im Fokus, sondern die Fähigkeiten. Wichtig ist auch, Ziele und erreichbare Zwischenziele zu setzen, damit Schritt für Schritt Meilensteine erreicht werden können. In der Umsetzung ziehen alle am gleichen Strang. Basis dafür ist ein Vertrauensverhältnis, so dass die betroffene Person offen ist für unsere Beratung. Dann braucht es auch das Commitment von der Wirtschaft, den Arbeitgebenden, mit uns auf den Weg zu gehen und nicht bei ersten Schwierigkeiten die Flinte ins Korn zu werfen. Manchmal braucht es auch ein bisschen Glück, besonders wenn ein neuer Arbeitsplatz gesucht wird. Dann hilft es, wenn man im richtigen Moment am richtigen Ort anklopft.
Und damit die Eingliederung langfristig funktioniert?
Kunz: Die Eingliederung ist nur nachhaltig, wenn sie für alle direkt involvierten Personen eine Win-win-Situation ist: für den Arbeitnehmer, den Arbeitgebenden und schliesslich auch für uns. Das ist möglich, wenn die Arbeit der Leistung entsprechend entlöhnt wird und es betriebswirtschaftlich für alle aufgeht. Die gesundheitliche Einschränkung soll nicht zum Lohndumping verleiten. Sind die Entschädigung, allfällige Zusatzleistungen und Kompromisse zu grosszügig, funktioniert es auch nicht. Das führt zu Unruhe im Betrieb. Wichtig ist eine faire Lösung für alle. Der Vorteil einer erfolgreichen Eingliederung für die Unternehmen ist, dass sie sehr loyale und dankbare Mitarbeitende gewinnen können. Die Eingliederungsarbeit ist anspruchsvoll, vieles muss stimmen, damit es funktioniert. Es gibt kein Patentrezept, jedes Einzelschicksal muss individuell betrachtet und eine adäquate Lösung gefunden werden.
Sie haben den Austausch mit anderen Versicherungen angesprochen. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit?
Kunz: In der beruflichen Integration läuft die Zusammenarbeit meist über beteiligte Case Manager von Krankentaggeldversicherungen. Wir tauschen uns aus, führen Roundtable-Gespräche bei Arbeitgebenden, in einer Klinik oder bei Ärzten. Häufig findet auch ein bilateraler Austausch zum Abgleich der Eingliederungsstrategie statt. Wenn wir von der beruflichen Integration involviert sind, liegt der Lead meist bei uns.
Tinner: Wir sind dankbar, wenn ein Case Manager schon involviert ist und uns über die Situation und allfällige Fortschritte früh informiert. So können wir schneller eingreifen, wenn Unterstützung gewünscht wird und sinnvoll ist. Bei Rentenprüfungen aufgrund von Unfallfolgen ist der Unfallversicherer im Lead, und wir folgen nach. Wenn Krankentaggeldversicherer beteiligt sind, versuchen wir bei Gutachten zusammenzuarbeiten, damit Abklärungen nicht doppelt laufen. Pensionskassen prüfen ihre Leistungsverpflichtung erst, wenn der IV-Entscheid vorliegt. Pensionskassen und vor allem Rückversicherer setzen vermehrt Case Manager ein und halten uns auf dem Laufenden. Vielfach sind ihnen die Versicherten vor uns bekannt. Krankentaggeldversicherer machen die Betroffenen oft auf eine mögliche Anmeldung bei der IV aufmerksam und können uns Inputs geben.
Woran erkennen die Arbeitgebenden, dass die Arbeitsunfähigkeit eines Mitarbeitenden besondere Aufmerksamkeit verlangt?
Kunz: Offenheit und Transparenz zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden sind eine Voraussetzung für eine gute Eingliederung. Als Teamleiter werde ich hellhörig, wenn ich ein diffuses Arbeitsunfähigkeitszeugnis erhalte. Das kann ein Auslöser sein, um frühzeitig Massnahmen zu ergreifen. Aber jede Situation ist anders. Ein gutes Verhältnis zwischen dem Vorgesetzten und den Mitarbeitenden erhöht auf jeden Fall die Chance auf eine transparente Information. Im umgekehrten Fall war vermutlich schon zuvor das Verhältnis am Arbeitsplatz nicht optimal, wenn keine Informationen fliessen. Es ist das Recht der versicherten Person, dem Arbeitgeber nichts über die Krankheit zu sagen. Aber dem Arbeitgeber fällt es leichter, Verständnis zu entwickeln und zu helfen, wenn er weiss, was los ist. Hier können wir eine Vermittlerrolle einnehmen. Im Austausch können Case Manager oder IV-Berater, die involviert sind, Brückenbauer sein. Das gilt auch bei betrieblichen Case Managern, die einen Vertrauensraum für die Mitarbeitenden schaffen können. Nach dem Eintritt einer Krankheit ist es wichtig, dass der Dialog hergestellt werden kann – so weit wie für die betroffene Person möglich. Wenn jemand gar nicht in den Dialog treten mag, ist es schon wertvoll, wenigstens das zu wissen.
Tinner: Dafür gibt es auch die Früherkennung. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, den Mitarbeitenden im Rahmen der Früherfassung der IV zu melden. So kann die IV die Beteiligten zu einem Gespräch einladen und mögliche Massnahmen eruieren. Wir sind auch telefonisch für Arbeitgebende da, um Tipps für das weitere Vorgehen zu geben.
Kunz: Seit der letzten IV-Revision haben wir die Pflicht, die Arbeitgebenden zu beraten. Wir haben das schon vor dieser Regelung gemacht. Bei uns haben die Arbeitgebenden immer denselben Berater, damit ein Vertrauensverhältnis entsteht und die Hemmschwelle für eine Anfrage sinkt. HR-Verantwortliche können sich auch an uns wenden, ohne die Identität der betroffenen Person bekanntzugeben.
Stossen Sie bei der Eingliederung auch auf Widerstand?
Kunz: Wenn jemand keine Perspektive oder das Licht am Ende des Tunnels auch nicht ansatzweise sieht, kann die Grundmotivation und Bereitschaft gar nicht entwickelt werden. Dann fliesst die ganze Energie in die Gesundheitsproblematik, und es bleibt kaum etwas für die Eingliederung übrig. Dann müssen wir die Eingliederung auch mal unterbrechen, um der Medizin nochmals eine Chance zu geben. Eine andere grosse Herausforderung entsteht, wenn durch eine Persönlichkeitsstörung die Eigen- und die Fremdwahrnehmung stark verzerrt sind. Das kann zu grossen Spannungen am Arbeitsplatz führen. Schliesslich ist es auch schwierig, wenn die Grundfähigkeiten Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Flexibilität nicht vorhanden sind.
Was kann man tun, damit die bestehende Anstellung nicht verloren geht?
Tinner: Je früher wir unterstützen können, desto grösser ist die Chance, dass die Anstellung im Betrieb erhalten bleibt.
Kunz: Die Kommunikation ist zentral. Die betroffene Person muss Interesse und Bereitschaft zur Eingliederung signalisieren. Dann sind die Arbeitgebenden bereit, andere Optionen im Betrieb zu prüfen wie ein tieferes Pensum oder eine Beschäftigung in einem anderen Bereich. In kleinen Betrieben kann das schwieriger sein als in Grossunternehmen. Dabei unterstützt die IV situationsbezogen und individuell mit konkreten, gesetzlich vorgesehenen Eingliederungsmassnahmen. Es ist einfacher, eine Person im bestehenden Betrieb zu reintegrieren als in einem komplett neuen Betrieb.
Was geschieht, wenn die Arbeit am bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr möglich ist?
Kunz: Wenn das Anstellungsverhältnis verloren geht, unterstützt der IV-Berater bei der Stellensuche und der Arbeitsvermittlung. Die Palette bleibt die gleiche. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit Arbeitsversuchen gemacht. Dabei kann die versicherte Person drei bis sechs Monate mit einem IV-Taggeld testen, ob es am neuen Ort funktioniert. Auch der neue Arbeitgeber kann testen, ob die Person den Aufgaben gewachsen ist, geht aber noch kein Arbeitsverhältnis ein. So lassen sich Bedenken abbauen. Wenn ein Umschulungsanspruch besteht, gilt es herauszufinden, in welche Richtung es gehen kann – bis hin zum erneuten Drücken der Schulbank.
Wie läuft eine typische Eingliederung ab?
Tinner: In der Regel laden wir die versicherte Person nach der Anmeldung rasch zu einem Erstgespräch ein. Da ist je eine Fachperson Berufliche Integration und Berufliche Massnahmen/Rente anwesend. So kann eine parallele Fallführung stattfinden (siehe Grafik), und wir können schnell Informationen sammeln und gemeinsam das weitere Vorgehen besprechen und laufend abstimmen.
Kunz: Wenn es zu einer beruflichen Integration kommt, bleibt die gleiche Person zuständig. So legen wir die Basis für den Vertrauensaufbau schon im ersten Gespräch. Wenn man sich persönlich kennenlernt, können auch die Betroffenen besser involviert werden, aktiv teilnehmen und sich in den Prozess einbringen. Sie trauen sich dann eher, sich zu melden, sobald sich etwas verändert. So geht keine wertvolle Zeit verloren.
Wenn die IV-Rente die letzte Option ist, ist das endgültig?
Tinner: Die Rente ist, auch wenn sie einmal zugesprochen wurde, nie endgültig. Wir sind gesetzlich verpflichtet, regelmässige Revisionen durchzuführen. Sollte sich die Situation verändern, bieten wir sofort Unterstützung für den Wiedereinstieg, mit denselben Massnahmen wie bei der Neuanmeldung.
Kunz: Wenn sich Personen melden, schauen wir uns das gern an. Es ist aber wichtig, die subjektiv empfundene Verbesserung auch mit einem Mediziner zu besprechen. So kann sichergestellt werden, dass auch der Wunsch nach Besserung und Normalität nicht nur ein lobenswerter Wunsch ist, sondern auch eine echte gesundheitliche Verbesserung dahintersteht.
Take Aways
- Die berufliche Eingliederung von psychisch Erkrankten kann schwieriger sein als bei körperlichen Leiden, weil ihre Einschränkungen für Arbeitgebende schwerer greifbar sind.
- Eine erfolgreiche Eingliederung erfordert Motivation der Betroffenen, interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen allen Beteiligten.
- Je früher Unterstützung angeboten wird, desto grösser ist die Chance, dass eine bestehende Anstellung erhalten bleibt oder eine passende neue gefunden wird.
- Eine einmal gewährte IV-Rente wird regelmässig überprüft. Wenn sich die gesundheitliche Situation verbessert, wird eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt gefördert.