Wie sieht die zukünftige Invaliditätsentwicklung in der 2. Säule aus? Im Rahmen einer Studie der PK Rück wurde im November 2024 eine Prognose erhoben. Obwohl die Wahrscheinlichkeit für eine neue Invalidenrente seit 2017 bereits deutlich gestiegen ist, bleibt die Einschätzung von 606 Umfrageteilnehmenden eindeutig: Mehr als 80% der Befragten gehen davon aus, dass sich in den kommenden fünf Jahren die Neurentenquoten für Invalidität weiter um mindestens 10% erhöhen werden. Sowohl die zugrunde liegenden Ursachen als auch die möglichen Handlungsoptionen werden als heterogen eingeschätzt.
Beobachtete Invaliditätsentwicklung
Die Grafik zeigt rückblickend eine besorgniserregende Entwicklung: Seit 2017 steigen die jährlichen IV-Neurenten deutlich an.
Auch wenn in der beruflichen Vorsorge[1] die Zunahmen der Neurenten etwas geringer sind als in der 1. Säule, zeigt sich grundsätzlich derselbe Trend. Der Gesamtaufwand für jährliche Invalidenrenten fällt in der 2. Säule vergleichbar aus. Gemäss Pensionskassenstatistik 2023 wurden (ohne Kinderrenten) per Dezember 2023 für 109773 Rentenbeziehende insgesamt 2 Mia. Franken an Invalidenrentenleistungen gewährt. Gemäss IV-Statistik 2023 wurden für gesamthaft 251000 Invalidenrenten (ohne Kinderrenten) Zahlungen in Höhe von knapp 5 Mia. Franken ausgeschüttet. Entsprechend wichtig ist die Thematik für die berufliche Vorsorge. Die Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Neurenten drängt sich auf.
Prognostizierte Invaliditätsentwicklung
Im November 2024 wurden Fachleute mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen im Rahmen einer Umfrage nach ihrer Einschätzung zur zukünftigen Entwicklung der IV-Neuverrentungsquote mit Relevanz für die 2. Säule befragt. 606 Teilnehmende kamen dem Aufruf nach und gaben ihre Einschätzung ab.[2] Die Umfrage wurde durch eine Fokusgruppendiskussion mit Experten aus verschiedenen Fachgebieten ergänzt.[3]
Als Erstes sollten die Teilnehmer der Umfrage eine Prognose abgeben, wie sich die IV-Neurentenquoten in den nächsten fünf Jahren entwickeln würden (von –20% bis +20%). Die Grafik unten zeigt die deutlichen Resultate: Fast 85% der Umfrageteilnehmenden gehen davon aus, dass die Quoten in den nächsten fünf Jahren weiter ansteigen werden. Mehr als drei Viertel rechnen mit einem Anstieg um 10%, und mehr als 8% prognostizieren gar einen Anstieg um 20%.
Auch die eingesetzte Fokusgruppe gab im Dezember 2024 die Einschätzung ab, dass die IV-Neurentenquoten in den nächsten fünf Jahren um bis zu 10% steigen werden. Dies sei eine optimistische Einschätzung für den Fall, dass alles unternommen werde, um die Invalidität positiv zu beeinflussen.
Gründe für die Prognose
Um die Prognose besser einordnen und Handlungsempfehlungen ableiten zu können, wurden auch die Hauptgründe für die erwartete Entwicklung erfragt. Im Fragebogen standen sechs Gründe zur Auswahl (konjunkturelle, berufliche/betriebliche, medizinische, juristische, demografische Aspekte und [Wieder-]Eingliederung), wobei auch Mehrfachnennungen und freie Texteingaben möglich waren.
Mehr als 500 Teilnehmer geben in der Umfrage an, dass mehrere Faktoren zu ihrer Einschätzung führen. Jeweils mehr als 50% der Teilnehmenden sehen medizinische und/oder berufliche/betriebliche Aspekte als begründend für ihre Prognose an. Die offenen Rückmeldungen der Umfrage decken ein breites Themenspektrum ab, das sich auf die Herausforderungen der Invalidenversicherung, den Arbeitsmarkt und gesellschaftliche Entwicklungen bezieht. Die Antworten wurden anhand verschiedener Schwerpunkte strukturiert. Psychische Erkrankungen und Belastungen in verschiedenen Kontexten sind in den Freitextangaben mit Abstand am häufigsten genannt, insbesondere bei jungen Erwachsenen. Generell spiegeln die Antworten ein komplexes Zusammenspiel von sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Faktoren wider, die sowohl die berufliche Eingliederung als auch die Entscheidungsfaktoren bei Invalidität beeinflussen.
Auch die Fokusgruppe verortet ein multifaktorielles Problem. Es wurde betont, dass die reine Häufigkeit einer Krankheit (Prävalenz) nicht automatisch zu mehr Invalidisierungen führt, sondern dass die Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle spielen. Solange sich diese nicht veränderten, werde die Zahl der IV-Neurenten weiter steigen. Die Rechtsprechung, die Versicherungsbedingungen, die Haltung der Ärzteschaft sowie die Alterung der Gesellschaft, die zu einem Anstieg der Diagnosegruppe «andere Krankheiten» wie Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führe, wurden als hoch relevant eingestuft. Psychische Erkrankungen hätten in der Gesellschaft nicht in einem Ausmass zugenommen, dass diese allein die starke Zunahme der IV-Neurentenzusprachen der vergangenen sechs Jahre in diesem Bereich erklären könnten.
Handlungsempfehlungen
In der Umfrage wurden keine Handlungsempfehlungen erfragt. Die Teilnehmer der Fokusgruppe waren sich einig, dass die Früherkennung ein entscheidender Faktor sei, um Invalidität zu verhindern oder zumindest zu reduzieren. Besonders wichtig sei zudem der konsequente Einsatz von Massnahmen durch die IV-Stellen. Es sollen in Zusammenarbeit mit Arbeitgebenden und Ärzteschaft die Früherkennung, Frühintervention und Nutzung einer Teilarbeitsfähigkeit stärker gefördert werden, insbesondere durch den gezielten Einsatz des Arbeitsfähigkeitszeugnisses in Verbindung mit einem klar definierten Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes. Die Nähe der Vorsorgeeinrichtungen zu den Arbeitgebenden erleichtert die Umsetzung solcher Massnahmen. Auch die Pensionskassen sind gefordert, einen Beitrag zu leisten, um das Invaliditätsrisiko positiv zu beeinflussen, indem sie die angeschlossenen Unternehmen ermutigen, in Prävention und Wiedereingliederung zu investieren.
Take Aways
- Von 2017 bis 2023 haben die IV-Neurenten in der 1. (+42%) und in der 2. Säule (+34%) stark zugenommen.
- In der 1. und der 2. Säule war die Zunahme der Neurenten ausgeprägter als das Wachstum der versicherten Personenkreise im selben Zeitraum.
- Über 80% der befragten Fachpersonen gehen von einer weiteren Zunahme der Neurenten in den kommenden fünf Jahren aus.
- Die Zunahme kann durch geeignete Präventions- und Wiedereingliederungsmassnahmen unter Mitwirkung von Arbeitgebenden eingedämmt werden.
- Aufgrund der finanziellen Bedeutung sollten die Pensionskassen zur Lösung beitragen.