Virtualisiertes Recruiting und der Faktor Mensch

Montag, 14. September 2020 - Karen Heidl
Die Digitalisierung der Recruiting-Prozesskette bringt eine Vielzahl moderner Tools und neuer Methoden hervor, die vor allem die ­Recruiting-Prozesse ­effizienter gestalten sollen. Doch nicht jedes Vorgehen eignet sich für jeden ­Arbeitnehmermarkt, wie Search-­Spezialistin Stella Schrambke aus dem ­Hochleistungs-Recruiting für Call Center zu berichten weiss.

Stella, herausfordernde Aufgaben sind nach vielen Jahren als Recruiterin für verschiedene internationale Call-Center-Anbieter Dein Spezialgebiet.

Nun, in der Call-Center-Branche rekrutieren wir Mitarbeiter, die für unsere Kunden Service-Angebote umsetzen sollen. Das muss sehr schnell gehen und den Vorstellungen des Unternehmens entsprechen, das unsere Dienste in Anspruch nimmt. Beim Recruiting liegt zunächst die zentrale Aufgabe, als Basis ein produktives Team zu bilden, das die gewünschten Service-Leistungen erbringen kann. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die Zeitleisten für Recruiting knapp bemessen sind. Deshalb müssen gangbare, realistische Lösungen gefunden werden – nicht nur aus Recruiting-Sicht, sondern auch aus HR-Sicht mit den Post-Recruiting-Aktivitäten wie Mitarbeiter-Trainings, Trainer-Koordination und operativer Aufsetzung des rekrutierten Teams.

Kannst Du uns ein Beispiel geben?

Eine grössere Herausforderung war ein Work-at-Home-Projekt. Dabei ging es darum, ohne eigene Vorerfahrung ein reines Home-Office-Team aufzubauen. Dies umfasste zum ersten Mal auch einen virtualisierten Recruiting-Prozess, weil die Kandidaten nicht vor Ort, sondern in ganz Deutschland verteilt waren. Mit Video-Interviews ist das Thema noch nicht erledigt. Ein digitales Assessment Center benötigt zum Beispiel für die digitale Testsituation konzipierte Tests. Das Anforderungsprofil für Home-Office-Teams weist ebenfalls Spezifika auf: Die Leute müssen eigenständiger arbeiten können als ein Teammitglied vor Ort. Sie sollten auch eine gewisse Technikaffinität mitbringen, weil sie ja keinen direkten IT-Support haben. Das Recruiting-Team selbst musste sich technisch weiterbilden, um beispielsweise in der Lage zu sein, die Internet-Geschwindigkeit der Bewerber zu überprüfen – denn wenn die Bandbreite nicht ausreicht, ist Homeoffice oft schwierig. Und all dies war in einer Zeitleiste von drei Monaten für 120 Einstellungen zu realisieren. Das heisst, die Kerngrösse war von Anfang an schon enorm.

Wie planst Du eine solche Aufgabe?

Man plant vom Stichtag des produktiven Starts rückwärts, also beginnend mit den Einarbeitungsaktivitäten – in diesem Fall die Trainingsgruppen und -tage. Diese sogenannten Induction Trainings dauern in der Regel drei bis vier Wochen, in denen das Fachwissen für die Service-Leistungen vermittelt wird. In diesem Fall wurden sie per Webinar durchgeführt. Wenn die Gruppengrössen und Termine feststehen, werden die Recruiting-Ziele innerhalb des gegebenen Zeithorizonts gestaffelt. Man hat dann pro Monat beispielsweise zwei Zwanzigergruppen, die möglichst voll besetzt sein müssen. Das bedeutet in diesem Fall zehn Einstellungen pro Woche. Um zehn Einstellungen zu generieren, benötigt man mindestens 40 bis 50 Bewerbungen. Mit diesen heruntergebrochenen Recruiting-Zielen lässt sich auch sehr gut der Status messen, sodass gegebenenfalls weitere Job-Advertising-Massnahmen ergriffen werden können. Zu berücksichtigen ist ausserdem die Fluktuationsrate während der Trainingsphase. Wenn erst zum Ende der Rekrutierungsphase zusätzlich weitere Bewerberinnen eingestellt werden, müssen diese ebenfalls zum Stichtag produktiv sein.

Wie war das Recruiting-Team zusammengesetzt?

Wir waren in dem Projekt vier Recruiter, das Marketing-Team unterstützte die Anzeigenschaltungen und Social-Media-Aktivitäten und eine Person im Bereich Direct Search. Man baut sich eine Art Assembly Line auf: Das Sourcing-Team prüft die Anzahl der Bewerbungseingänge, führt Vorscreenings und Telefoninterviews durch und fixiert die Assessment-Termine mit den Einladungen. Die Recruiter führen die Assessments durch und kümmern sich um das Bewerbermanagement. Die Marketing-Spezialisten optimieren laufend die Recruiting-Kampagne. Sobald die Einstellungszusage vorliegt, übergibt das Recruiting dann an die HR-Abteilung, die für das Vertragswerk und die administrativen Aufgaben zuständig ist.

Von welchen Fachabteilungen erhält das Recruiting eines Call Centers Input?

Die wichtigen Schnittstellen in einem Call Center sind: Das Workforce Management und der sogenannte Operations Manager. Mit dem Workforce Management wird regelmässig der Aufbauplan angeschaut, um die Volumen-Forecasts zu prüfen. Das sind die geplanten Call-Minuten in einem Monat. Diese Call-Minuten werden umgerechnet in eine Staffing-Anforderung, also Full-Time-Equivalents. Es wird regelmässig geprüft, wie Volumen und Personalbesetzung korrespondieren. Dabei gibt es aus unterschiedlichen Gründen Schwankungen, sodass die Teamgrössen wieder angepasst werden müssen. Eine hohe Krankschreibungsrate lässt sich allerdings nicht wegrekrutieren.

Wenn man neue Mitarbeitende in einer so grossen Zahl einstellt, erreichen sie natürlich noch nicht die Leistungskennzahlen erfahrenerer Mitarbeitender, sodass sich längere Gesprächsdauern auf den Personalbedarf niederschlagen können. Lernkurveneffekte müssen allenfalls mit zusätzlichen Trainings unterstützt werden.

Auf operativer Ebene ist der Austausch mit dem Operations Manager wichtig, der gleichzeitig die Schnittstelle zum Kunden ist und Verzögerungen in der Rekrutierung mit dem Kunden bespricht.

Das klingt wie «Recruiting by Numbers». Wo bleibt der Faktor Mensch?

Es gibt ausgefeilte Tools, so verspricht beispielsweise künstliche Intelligenz im Assessment oder im Pre-Screening weitgehende Automatisation. Diese Tools nehmen einem wirklich Arbeit ab. Aber es gibt auch Knackpunkte – nehmen wir als Beispiel die Einführung eines Assessment Tools mit verschiedenen Tests: In den USA werden Bewerber von einer Jobanzeige bruchlos und ohne Vorfilter in das digitale Assessment geleitet. Beim Recruiter kommen dann nur die Bewerbungen derjenigen an, die diesen Test bestehen. Eine solche Vorgehensweise ist in Europa undenkbar – und zwar aus kulturellen Gründen. Man kann zwar ­solche Tools einsetzen, aber eine persönliche ­Kontaktaufnahme muss vor der Einladung zum Assessment erfolgen, um auf den Test vorzubereiten und den Job zu erläutern. Die strengeren EU-Datenschutzgesetze sind ein weiteres Thema.

Eine andere Krux bei den Online-Tests: Wenn man die Filter zu eng setzt, verliert man Bewerberinnen, die eigentlich gut passen würden, sich aber in der Testumgebung nicht wohl fühlen und deshalb durchs Raster fallen. Das will man als Recruiter vermeiden. Wir haben tatsächlich eine ganze Reihe von Kandidaten eingestellt, bei denen die Testergebnisse nicht so gut waren, die aber im Kundenkontakt hervorragend sind, sich gut ausdrücken können und Mehrwert für ihr Team und den Job bringen. So ein Test ist ein begleitendes Tool, darf aber nicht zum Ausschluss eines Bewerbers führen, ausser in Fällen, in denen man mit Bewerbungen geflutet wird. Dann kann es sein, dass ein digitales Assessment Bewerbungen vorfiltert, die man in einem bestimmten Zeitrahmen nicht abarbeiten könnte. Aber wann bekommt man heutzutage noch Unmengen von Bewerbungen? Das war vor 15 Jahren noch anders.

Stichwort Arbeitnehmermarkt: Man muss sich heute neue Wege einfallen lassen, von potenziellen, latenten Bewerbern wahrgenommen zu werden. Hast du dazu Empfehlungen?

Im Recruiting-Bereich schiessen Software-Lösungen aus dem Boden. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, wen man eigentlich erreichen will. Ein 25-jähriger Softwareentwickler findet Videointerviews und Gamification-Elemente im Assessment bestimmt attraktiv. Wenn man aber die Generation 45+ ansprechen möchte oder vielleicht Zielgruppen aus manchen ländlichen Regionen, eignen sich solche Tools weniger. Die Bewerber haben keine Erfahrung damit, fühlen sich nicht wohl und springen ab. Gut angenommen werden Apps, die es ermöglichen, sich direkt via Smartphone zu bewerben.

Der digitalisierte Recruiting-Prozess wird auch an anderer Stelle vom Faktor Mensch unterlaufen: Manche bewerben sich nicht über die Karriereseite, sondern per E-Mail. Man kann es sich nicht leisten, diese Bewerbungen nicht zu beachten. Denn ja, es ist ein Arbeitnehmermarkt. Man muss die Recruiting-Prozesse nach den Bewerbern ausrichten, die die unternehmensinternen Prozesse nicht im Fokus haben.

Welche Gefahren für die Arbeitgebermarke siehst du bei falschen Recruiting-Methoden?

Es gibt Guerilla-Marketing-Methoden, die ich nicht adaptieren würde, beispielsweise Recruiter in den Aussendienst zu schicken und Leute anzusprechen. Das Schlimmste, was ich einmal gesehen habe, waren Recruiter, die mit Flyern vor der Agentur für Arbeit – dem Äquivalent für das RAV in der Schweiz – standen.

Das klingt nach einer Verzweiflungstat.

Alles, was nach Verzweiflungstat im Recruiting aussieht, ist auch ein Kulturkiller. Genauso wie es auch ein Kulturkiller ist, wenn der Recruiting-Prozess zu kurz und simpel ist. Dies drückt nämlich einen Mangel an Wertschätzung aus, weil es den Eindruck vermittelt, dass man jeden einstellt. Gruppen-­Assessments mit 20 Teilnehmern sind ebenfalls ein No-Go, denn solche Vorgehensweisen verraten geringes Interesse am Einzelnen.

Lassen sich Bewerberinnen heute so etwas noch gefallen?

Ich denke, dass Bewerber heute schon recht selbstbewusst sind und ein guter Teil auch kein Problem hat, den Bewerbungsprozess abzubrechen. Die meisten tun das aber nicht. Häufig ist es so, dass sich Bewerberinnen nicht trauen, offen zu sprechen. Auch wenn jemand kein Interesse hat, wird das selten offen kommuniziert. Die Kandidaten sind dann einfach nicht mehr erreichbar – der Arbeitgeber wird «geghostet». Ghosting ist heute wirklich ein Phänomen. Das geht sogar so weit, dass man von Leuten geghostet wird, die bereits einen Arbeitsvertrag unterschrieben haben. Das ist tatsächlich keine Seltenheit. Von zehn Einstellungen verliert man zwei.

Deine wichtigsten Tipps zum Thema Power Recruiting?

Man muss Lust aufs Verkaufen haben – Recruiting hat viel von Marketing und Vertrieb. Dazu muss man Energie ausstrahlen, weil man Leute begeistern will.

Man braucht ein dickes Fell, weil man es nicht persönlich nehmen darf, wenn Leute am ersten Tag nicht zur Arbeit kommen.

Man muss ständig veränderungsbereit sein.

Analytics, Analytics, Analytics.

Besten Dank für das Gespräch.

Unsere Expertin

 

Stella Schrambke wurde 1975 in Konstanz am Bodensee ­geboren und studierte Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte an der Universität Konstanz und an der  University of Auckland, Neuseeland. Seit zehn Jahren ist sie in der Call-Center-Branche in unterschiedlichen Leitungsfunktionen im HR-Bereich tätig. Derzeit lebt sie in ­Berlin.

Artikel teilen


Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.

Folgen sie uns auf