Krankheitsscham - der unsichtbare Schatten

Donnerstag, 02. März 2023 - Karen Heidl
Bewältigungsstrategie – dieser Begriff lässt an ein rationales, systematisches Vorgehen denken. Das Gegenteil kann der Fall sein. Dr. Waltraut Barnowski-Geiser hat dem in der Therapie bisher wenig beleuchteten Phänomen der Krankheitsscham ein berührendes und gleichzeitig aufklärendes Buch gewidmet. Im Gespräch erläutert sie, wie Scham wirkt.
Frau Barnowski-Geiser, wie definieren Sie Krankheitsscham?

Krankheitsscham tritt immer dann auf, wenn eine Person ihr Ansehen durch andere aufgrund einer Krankheit infrage gestellt sieht. Sie fühlt sich dann wertlos und nichtig. Wie die Scham überhaupt ist die Krankheitsscham sehr schwer zu greifen. Sie ist zwar diffus vorhanden, da sie aber von den Betroffenen nicht gezeigt werden will, ist sie auch von anderen schwer einzuordnen. Die Betroffenen wollen die Symptome verbergen; das führt zu vielen verqueren Reaktionen, verquerem Verhalten und verquerer Resonanz. Je stärker die Krankheitsscham wirkt, umso mehr ist sie unter Masken verborgen.

Schlimm kann es beispielsweise bei Menschen sein, die eine äusserlich sichtbare Erkrankung haben. Ich hatte einmal eine Patientin, die vor Jahren unter Neurodermitis gelitten hatte und diese extrem überschminkte. Auch im Hochsommer trug sie nur langärmlige, den ganzen Körper bedeckende Kleidung, um die Erkrankung zu verstecken. Ich war erstaunt, wie nachhaltig die Scham wirkte, als sie zu mir sagte: «Schauen Sie mich an, ich sehe ja furchtbar aus.» Ich sah überhaupt nichts. Sie hatte nie zuvor über ihre Neurodermitis, die sie auch im Gesicht gehabt hatte, gesprochen und fing an zu weinen. Von der Erkrankung war allerdings nichts mehr zu sehen. Sie überschminkte sich aber immer noch so, als hätte sie sie, weil sie grosse Angst hatte, dass die Hauterkrankung noch heute sichtbar werden könnte.»

Wie wirkt Scham?

Das Gefühl der Scham ist für die meisten betroffenen Menschen schwer zu beschreiben. Wenn ich meine Klienten darauf anspreche, dann schauen sie mich häufig fassungslos an und sagen: «Ich fühle keine Scham.»

Wir alle kennen die körperlichen Reaktionen auf Schamgefühl: Das Erröten, die Schweissausbrüche, die beschleunigte Atmung, Herzklopfen, Stimmversagen oder Stottern, Blickvermeidung. Wenn sich diese Scham chronifiziert, hat dies Folgen für den Körper. Manche Klienten sagen, es fühle sich wie ein Korsett an.

Scham kann sich körperlich manifestieren. Immer wenn Krankheitsscham chronifiziert ist, ist in der Regel auch das zentrale Nervensystem in seiner Funktion gestört. Je länger die Krankheitsscham auftritt, desto ausgeprägter entwickelt sich eine sogenannte neuronale Bahnung. Das ist ein Begriff aus der Neurophysiologie. Die Bahnung tritt ein, wenn wiederholte Erregung bestimmter Nervenbahnen den Wirkungsgrad von Reizen gleicher oder geringerer Stärke erhöht. Das heisst, Hocherregung lässt sich nicht mehr richtig regulieren. Diese «Autobahnen im Gehirn», auf denen die Betroffenen unterwegs sind, senken die Belastungsgrenzen.

Die Betroffenen erleben körperliche Signale, die sie nicht wollen, und fangen dann oft an, sich mental von ihrem Körper und ihrem Erleben abzuspalten. Zusätzlich zur Grunderkrankung kann dies eine Verschlechterung der  Lebensqualität herbeiführen.

Zur Person

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser hat nach ihrem Lehramtsstudium am Institut Musiktherapie/Hochschule für Musik und Theater der Universität Hamburg promoviert. Ihr Forschungsschwerpunkt war Musiktherapie bei familiärer Suchtbelastung. Sie blickt auf eine langjährige Tätigkeit als Lehrbeauftragte und Lehrerin zurück und betreibt eine freie Praxis in Erkelenz bei Düsseldorf (Deutschland). Sie hat eine Reihe erfolgreicher Bücher zu den Themen Sucht, ADHS u. a. publiziert.

Wenn man sich nicht mehr spüren darf oder will, weil es als unangenehm empfunden wird, bedeutet dies letztlich, dass das Erleben insgesamt völlig eingeschränkt ist und man nur noch eine funktionierende Hülle ist. Und dies ist etwas, was Menschen oft erzählen: Sie haben keinen Zugang mehr zu sich selbst und fühlen sich völlig fremd. Sie beschreiben es manchmal mit den Worten: «Ich habe keine Heimat.» Die Menschen fühlen sich in sich selbst und ihrem Körper fremd.

Häufige Aussagen sind auch: «Ich war wie in einer Isolierzelle» oder: «Um mich herum war eine riesige Mauer», eine Mauer, die den Kontakt zu anderen blockiert, hinter der man sich aber auch verstecken kann, um nicht gesehen zu werden.

In welchem Verhalten wird so etwas für Aussenstehende sichtbar?

Das Schwierige ist, dass die Vermeidung dazu führt, dass Aussenstehende das Signal erhalten, besser nicht hinzuschauen. Dieses Signal «Schau mich nicht an!» wird von Betroffenen ausgesendet. Gleichzeitig gibt es eine grosse Sehnsucht, bemerkt zu werden. Wir nehmen eine starre Körperhaltung, einen gesenkten Blick, eine leise Sprache wahr. Ein Betroffener erzählte mir, dass er sich so «unsichtbar» machte, dass er noch nicht einmal bei der Fahrkartenkontrolle im Zug bemerkt wurde.

Bei einer chronifizierten Form der Scham gibt es starke Selbstwertprobleme und Selbstverunsicherung, quälende Selbstvorwürfe und ein Kreisen um die eigenen Gedanken, was verhindert, dass man sich auf andere einlassen kann. Krankheitsscham geht in Resonanz. Kontakte werden massgeblich erschwert. Das merken die anderen Menschen und gehen auf Distanz.

Es gibt aber auch ein gegenteiliges Verhalten, bei dem jemand Scham völlig ignoriert und eben schamlos wird. So jemand poltert vielleicht laut im Raum oder macht Witze über Krankheiten. Auch dies hält das Gegenüber auf Distanz, denn man wird ja peinlich berührt.

Gibt es typische Folgen der Krankheitsscham im Arbeitskontext?

Wenn man sich selbst nicht eingestehen will, dass man krank ist, weil man sich dafür schämt, dann kommt es zu einer Verleugnung. Die Person will auf ihre Krankheit nicht angesprochen werden. Manche Mitarbeitende kompensieren ihre Scham auch über eine hohe Leistungsbereitschaft, die die Krankheit vertuschen soll.

Es gibt doch viele Krankheiten, die mit Stigmatisierung und Scham verbunden sind: Krebs, Diabetes, Über- oder Untergewicht …

…oder posttraumatische Belastungsstörungen oder Entwicklungstraumata. Menschen verstehen ihre Scham häufig nicht, auch wenn sie die Symptome wie Herzrasen, Schwindel oder Übelkeit beschreiben können. Wenn diese immer wieder auftauchen, heisst es im Arbeitsumfeld häufig, dass da jemand «krank macht», also simuliert.

Es gibt zum einen die Ursachen für die Entwicklung von Scham, die in der persönlichen Biografie liegen. Beispielsweise Schulderfahrungen, Bindungsprobleme in schwierigen Familien oder transgenerationale Weitergaben. In der Familie gilt vielleicht traditionell Krankheit als Schwäche.

Problematisch ist zum anderen in vielen Bereichen auch der Umgang mit Gesundheit. Gesundheit scheint machbar. Man trägt dafür die Verantwortung und fragt sich im Falle einer Diagnose: «Was habe ich falsch gemacht?» Man fühlt sich als Versager. Darunter liegt noch die Verdrängung, dass wir in unserer fortschrittlichen Gesellschaft die Vergänglichkeit nicht besiegen können, die Verdrängung von Tod.

Was kann man im Unternehmen als personalverantwortliche Person tun, um Menschen zu erreichen, die sich in der Krankheitssituation abkapseln?

Wenn man in einen Dialog gehen kann, verbessert man die Chancen, Arbeitskraft zu erhalten. Natürlich müssen die Erkrankten ein Stück Selbstreflexion leisten, um dann über ihre Erkrankung offener sprechen zu können. Wer verdrängt, hat damit ein Problem, denn jedes Ansprechen des Themas kann schon eine Kränkung bedeuten.

Es ist hilfreich, individuell auf die Person einzugehen. Als Vorgesetzte fragt man besser, was die betroffene Person kann, statt was sie nicht kann. Die noch möglichen Leistungen sollte man wertschätzen. Gemeinsam sollten Teamleiter und Erkrankte erörtern, unter welchen Arbeitsbedingungen eine zuverlässige Leistung erbracht werden kann. Hier ist Flexibilität im Unternehmen gefordert.

Auch die Würdigung einer konstruktiven Mitwirkung der erkrankten Person bei der Ausgestaltung passender Arbeitsbedingungen wirkt vertrauensbildend und fördert die Offenheit. Dann kann die Krankheitsscham in den Hintergrund treten und die Reintegration wird möglich.

Ein Gespräch darüber, was möglich ist, ist leider noch keine Selbstverständlichkeit. Häufig kommen Klienten zu mir, die sich unter Druck gesetzt fühlen. In manchen Berufen kommt Krankheit bei der Kalkulation des Personalschlüssels einfach nicht vor, beispielsweise im Kindergarten oder in der Pflege.

Buchempfehlung

Krankheitsscham –
die verborgene Emotion
Erkennen, verstehen, helfen

Leben Lernen, Bd. 330
Waltraut Barnowski-Geiser
Klett Cotta
1. Auflage 2022
ISBN 978-3-608-89278-9

Die Angst, stigmatisiert, ausgegrenzt und als Last angesehen zu werden oder in existenzielle Probleme zu geraten, kann schwer erkrankte Menschen zusätzlich enorm belasten. Krankheitsscham wird dann nicht selten zum verborgenen Begleiter. Anhand vieler Beispiele aus der Praxis sensibilisiert das Buch für dieses verdrängte Thema, zeigt, wie es im therapeutischen Setting erkannt und aus der Tabuzone geholt werden kann. Das Hauptaugenmerk liegt auf den zahlreichen praktischen Interventionsmöglichkeiten aus verschiedenen Therapierichtungen, die eine Neubewertung, Verhaltensänderung und verändertes Erleben bei den Betroffenen unterstützen.

Wie gehen Sie in einer Therapie vor?

Ich habe zum Thema Krankheitsscham ein Konzept namens Vivace entwickelt. Vivace ist ein Kunstwort aus den Bausteinen Verbundenheit, Innenwendung, Verortung, Ausdruck, Coping-Adaption und Engagement-Aktivierung. Es geht in der therapeutischen Arbeit darum, wieder Verbindung mit sich selbst aufzubauen und sich seinen Emotionen zu stellen und sie auszudrücken, wieder wie das Wort Vivace sagt, lebendig zu werden.

Therapeuten, die ganzheitlich arbeiten, das heisst Körper und Psyche als Einheit behandeln, können helfen, die Lebensqualität wieder zu verbessern.

Was würden Sie idealerweise im Hinblick aufs Team und im Hinblick auf die Kommunikation durch Betroffene empfehlen?

Arbeitsrechtlich steht es jedem frei, über eine Erkrankung zu sprechen oder eben nicht. Ich würde aber immer empfehlen, offen mit der Diagnose umzugehen. Auch hilft es, offen darüber zu sprechen, wie sie die Arbeitsleistung beeinflusst. Das ist leicht gesagt, denn bestimmte Diagnosen wie beispielsweise Depression können sich nachteilig auf die weitere Karriere auswirken. Es ist nicht so einfach. Von einer idealtypischen Umgangsweise mit Krankheit sind wir noch weit entfernt. Als kranke Person macht man sich angreifbar.

Auf der anderen Seite macht man in einer offenen Kommunikation häufig die Erfahrung, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist. Das kann eine stärkende Erfahrung sein.

Ja, diese guten Erfahrungen gibt es auch. Wir müssen uns mehr darum bemühen.

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