Weil es um Menschen geht

Donnerstag, 20. Januar 2022 - Sabine Can, Florian Hellmeier
Die Einführung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements kann mobilisieren und aktivieren. Nicht nur den Einzelnen, sondern auch das ganze Team. Ein interaktiver, transparenter Einführungsprozess bietet viele Chancen, Kulturwandel zufördern und blinde Flecken in der Führung auszuleuchten. Ein Praxisbeispiel aus der Notrufleitstelle in München.

Mit weit über 40000 Beschäftigten, die in mehr als 800 Dienstgebäuden tätig sind, ist die Bayerische Landeshauptstadt München die grösste kommunale Arbeitgeberin in Deutschland. Die Aufgabenpalette ist vielfältig; beinahe jede Berufsgruppe ist bei der Stadt vertreten. So auch die Berufsfeuerwehr München, zu der der Betrieb der Integrierten Leitstelle (ILS) gehört.

Der Arbeitsalltag – Agieren mit Extremen

In der ILS München gehen pro Tag bis zu 3000 Anrufe ein. Dies sind im Jahr rund eine Million Anrufe; etwa die Hälfte kommt über den europäischen Notruf, die 112. Egal ob Brand, medizinischer Notfall, schwerer Autounfall oder orientierungslose Entenfamilie – die 220 Disponentinnen und Disponenten helfen in jeder noch so kritischen Notlage. Grösste Herausforderung dabei ist, dass die Kolleginnen und Kollegen nie wissen, was auf sie zukommt. So kann hinter einem Anruf eine vermeintliche Lappalie stecken, es kann aber auch um Leben und Tod gehen, wo jede Sekunde zählt.

Die ständige Konfrontation mit menschlichen Schicksalen und schwierigster Kommunikation am Telefon sowie die Anforderungen einer komplexen Einsatzleittechnik sind rund um die Uhr zusätzliche Stressoren. Und auch wenn die eingesetzte Technik viel Unterstützung bietet, so kann sie den Menschen in der Leitstelle nicht ersetzen. Bei der Arbeit in der ILS handelt es sich um eine der anspruchsvollsten Tätigkeiten im öffentlichen Dienst.

Der Anstoss zur Einführung eines BGM

2017 – ein Jahr voller Veränderungen bei der ILS: Der Umzug in eine neue Leitstelle, veränderte Führungsstrukturen, die zunehmende Technologisierung der Infrastruktur an den Arbeitsplätzen, überdurchschnittliche Krankenstände sowie damit einhergehend ein schlechter werdendes Betriebsklima führten Anfang 2018 dazu, sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Motivation, Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten auch vor dem Hintergrund stetig steigender Anforderungen dauerhaft erhalten werden können. Die Leitstellenleitung entschloss sich deshalb dazu, ein BGM einzuführen und umzusetzen. Ziel war dabei, BGM ganzheitlich zu betrachten und nicht nur punktuelle Einzelmassnahmen im Sinne der Verhaltensprävention in den Vordergrund zu rücken. Den Kern der Einführung des BGM bei der ILS bildete die psychische Gefährdungsbeurteilung (siehe Kasten), die zur detaillierteren Analyse der Führungskultur mit dem Personalentwicklungsinstrument «Führungsdialog» kombiniert worden ist.

Lesen Sie auch den Kongressbericht zum Thema:

Lesen Sie auch den Kongressbericht zum Thema.

Vorgehensweise

In einem ersten Schritt wurden alle Beschäftigten über das Ziel des anstehenden Prozesses und die konkrete Vorgehensweise informiert. Aufgrund des Schichtbetriebs fanden an unterschiedlichen Tagen und zu unterschiedlichen Zeiten diverse Präsenzveranstaltungen statt, an denen neben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, alle Führungskräfte der ILS, die Personalvertretung sowie alle im Arbeits- und Gesundheitsschutz relevanten Akteure (betriebsärztlicher Dienst, Fachdienst für Arbeitssicherheit) teilgenommen haben. Damit konnte sichergestellt werden, dass alle die für sie relevanten Informationen aus erster Hand erhielten. Der detaillierte Ablauf folgte den bei der Stadt München etablierten und in einer Dienstvereinbarung fest verankerten Qualitätsstandards:

  • Um ein umfassendes Bild der Gesamtsituation und der konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort zu erhalten, wird nach umfangreichen Informationskampagnen eine umfassende Ist-Analyse in Form von Befragungen und darauf aufbauenden Workshops usw. durchgeführt.
  • Nach der Auswertung der im Rahmen der Ist-Analyse gewonnenen Erkenntnisse erfolgt unter enger Beteiligung der Beschäftigten die Entwicklung und Planung möglicher Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitssituation vor Ort. Als Expertinnen und Experten für ihren Arbeitsplatz wissen Beschäftigte am besten, wo ihnen der Schuh drückt.
  • Durch das Top-Management wird auf dieser Basis die Entscheidung darüber getroffen, welche Massnahmen wie und bis wann umgesetzt werden. Wichtig ist hierbei vor allem die regelmässige Information der Beschäftigten über den jeweiligen Stand der Massnahmenumsetzung.
  • Die anschliessende Evaluation macht sichtbar, ob die umgesetzten Massnahmen aus Sicht der Beschäftigten zu einer spürbaren Verbesserung der Arbeitssituation geführt haben.
  • Im Sinne der Nachhaltigkeit erfolgt schliesslich eine Integration des BGM in die vorhandenen Strukturen und Prozesse des jeweiligen Bereichs.

Im Zeitraum Juni 2018 bis Januar 2019 wurden innerhalb der ILS insgesamt über 30 Teams und damit rund 200 Beschäftigte mithilfe des Führungsdialogs befragt. Der Führungsdialog wurde als spezielles Feedbackverfahren für Führungskräfte entwickelt und eignet sich aufgrund der Themen, die dort angesprochen werden sollen, auch für die Durchführung der psychischen Gefährdungsbeurteilung. Beides stand aufgrund der internen Vorgaben der Landeshauptstadt München bei der ILS ohnehin an, sodass diese Instrumente miteinander kombiniert und im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements eingesetzt worden sind.

Die gewonnenen Erkenntnisse wurden mit Begleitung durch die internen Gesundheitsmanager teamweise intensiv besprochen. Pro Team fanden zwei halbtägige Workshops statt. Die ersten Workshops wurden jeweils ohne Führungskräfte durchgeführt. Dies hat den Vorteil, dass Themen – vor allem solche, die unmittelbar das Führungsverhalten betreffen – ohne Konfrontation mit der direkten Führungskraft angesprochen werden können. Im Vordergrund des umfassend angelegten Beteiligungsprozesses stand die Beleuchtung der vier Merkmalsbereiche «Arbeitsumgebung», «Arbeitsinhalt und -aufgabe», «Arbeitsorganisation» sowie «soziale Beziehungen». Die anschliessenden Workshops wurden im Sinne der Förderung des Miteinanders und der Dialogfähigkeit dazu genutzt, die in den Workshops konkretisierten Erkenntnisse über die vorherrschenden Belastungsfaktoren sowie erste Verbesserungsvorschläge gemeinsam mit der direkten Führungskraft zu diskutieren. Bei der konkreten Massnahmenplanung bzw. -umsetzung wurde danach differenziert, ob Themen lediglich einzelne Teams betrafen und folglich in den meisten Fällen schnell und unkompliziert angegangen werden konnten oder übergeordnet für die gesamte Leitstelle relevant waren. Die Liste der Massnahmen – vor allem übergeordneter Natur – war lang.

Technische Lösungen wie beispielsweise eine individuelle Beleuchtung am Arbeitsplatz und das Beseitigen von Blendeffekten, was gerade bei der Arbeit mit sieben Bildschirmen enorm wichtig ist, oder ein gesundheitsförderndes Raumklima durch eine präzise Regelung von Temperatur und Luftfeuchtigkeit gehörten ebenso dazu wie folgende organisatorische Verbesserungen:

  • Zuschaltung von Personalkapazitäten, um den Anforderungen der stetig steigenden Fallzahlen von Notrufen und Einsätzen gerecht zu werden;
  • Überprüfung des Arbeitszeitmodells und der -verteilung, um die Personalkapazitäten gezielt den Bedarfen zuzuordnen;
  • Anpassung der Arbeitsprozesse an veränderte Rahmenbedingungen der Einsatzbearbeitung und
  • Optimierung des Einarbeitungskonzeptes zur intensiveren Betreuung neuer Mitarbeitenden durch fest zugewiesene Mentorinnen und Mentoren.

«Weiche» Faktoren entscheidend

Auch das Praxisbeispiel aus der ILS macht deutlich: Letztlich sind meistens die «weichen» Faktoren Betriebsklima, Kommunikationskultur und Führungsstil entscheidend für das Wohlbefinden am Arbeitsplatz und damit für den Erhalt und die Steigerung der Arbeitsfähigkeit. Aus diesem Grund wurden zur Förderung des sozialen Miteinanders Massnahmen wie die Schaffung von mehr Zeitkapazitäten für Personalführung, die Einführung einer Mitarbeitersprechstunde für den hierarchiefreien Informationsaustausch zwischen Mitarbeitenden und Leitung und die stärkere Einbindung der Mitarbeitenden in Entscheidungsprozesse umgesetzt.

BGM als Kulturentwicklungshilfe

Die Evaluation des Prozesses zeigte Erfolg: Der Krankenstand sank, und die Zufriedenheit stieg. Auch das extern durchgeführte Audit durch die Kommunale Unfallversicherung Bayern bestätigte mit seiner Gold-Auszeichnung der ILS die Wirksamkeit der Massnahmen. Ausschlaggebend für diese Auszeichnung ist vor allem, dass Gesundheitsmanagement innerhalb der ILS als strategisch ausgerichtetes Gesamtkonzept verstanden wird, das die verhaltens- und verhältnispräventiven Ansätze miteinander verbindet. Mit diesem Verständnis besitzt BGM das Potenzial, einen kulturellen Entwicklungsprozess innerhalb der Organisation anzustossen. So auch bei der ILS. Vor allem im Bereich der Kommunikation ist zu beobachten, dass die umfassenden Beteiligungsformate dazu beigetragen haben, Partizipation als wesentlichen Erfolgsfaktor zu verstehen und systematisch in den internen Abläufen zu integrieren sowie die hierarchieübergreifende und offene Thematisierung von teilweise auch kritischen Themen zu fördern. Darüber hinaus fördern entsprechende Aktivitäten das Bewusstsein der Führungskräfte für den Arbeitsschutz sowie für den eigenen Einfluss auf Gesundheit, Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten.

Die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit eines BGM steht und fällt mit den handelnden Führungskräften. Sie verantworten in ihrer Vorbildfunktion das Gelingen und den Kulturwandel und prägen elementar das Miteinander innerhalb einer Organisation sowie die Ernsthaftigkeit, mit der BGM verfolgt wird. Aufgrund der gemachten Erfahrungen und der erreichten Erfolge kann die Einführung eines BGM als Investition in die Zukunft für Unternehmen ausdrücklich empfohlen werden. Zumal das BGM bei ganzheitlicher Betrachtung einen wirksamen Hebel für Kulturveränderungen darstellt und eine positive Wirkung auf die Handlungsfelder Kommunikation, Führungskultur, soziales Miteinander, Partizipation, bewusste Gestaltung Arbeitsumfeld und Fehlerkultur hat.

Rückblick

Rückblickend haben sich neben den positiven Veränderungen auch Erkenntnisse für Verbesserung ergeben. Gerade in den aktuellen Zeiten der Corona-Pandemie gilt es, die BGM-Prozesse und -Strukturen krisenfest zu machen. Hier sind insbesondere die Führungskräfte gefordert, in den schwierigen Zeiten den Mitarbeitenden Orientierung und Sicherheit zu geben sowie den Übergang in das «neue Normal» zu gestalten. Als geeignete Unterstützung zur Erhebung von Stimmungsbildern der Mitarbeitenden in kurzen Intervallen wird die Einführung eines Befragungstools angeregt. Damit können gezielt Informationen zu den jeweiligen Handlungsfeldern abgefragt und die erforderlichen personalstrategischen Massnahmen abgeleitet werden. BGM ist ein Erfolgsfaktor!

Take-Aways

  • BGM ist aufgrund seiner unternehmerischen Notwendigkeit weit mehr als disponibles Nice-to-have.
  • Der lange Atem der Implementierung und Aufrechterhaltung des BGM lohnt sich.
  • Führungskräfte sind der zentrale Stellhebel.
  • Wohlbefinden, Motivation und Arbeitsfähigkeit lassen sich durch Kleinigkeiten steigern, für die nicht viel Geld in die Hand genommen werden muss.

Weiterführende Informationen im Web

«Checkliste – Schutz vor psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz», herausgegeben vom Staatssekretariat für Wirtschaft, SECO. 

Broschüre «Schutz vor psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz – Informationen für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen», herausgegeben vom Staatssekretariat für Wirtschaft, SECO.

Lesen Sie auch den Kongressbericht zum Thema.

Artikel teilen


Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.

Folgen sie uns auf