Berufsbildung neu denken

Montag, 25. März 2024 - Karen Heidl
Das Schweizer Bildungssystem funktioniert. Darin sind sich die meisten Akteure einig. Schnell aufeinanderfolgende Innovationszyklen werden jedoch zu ­einer Herausforderung, mit der sich auch das Berufsbildungssystem beschäftigen muss. Über die ­Situation bei den Schweizer Technologieunternehmen sprach Penso mit Dr. Sonja Studer von Swissmem, dem führenden Verband der Tech-Industrie.
Frau Studer, wie sehr beschäftigt Swissmem das Thema Berufsbildung?

Wir haben den Anspruch, die Mitarbeitenden unserer Unternehmen über die gesamte Berufslaufbahn zu begleiten. Unsere Branche ist stark vom Fachkräftemangel betroffen, weshalb wir uns besonders stark in der Bildung engagieren. Dies beginnt bereits sehr frühzeitig mit der MINT-Förderung während der Schulzeit. Den Schwerpunkt unseres Engagements bildet jedoch die berufliche Bildung. Hier sind wir für neun Berufe (siehe Kasten, Seite 20) verantwortlich. Wir betreiben eine eigene Academy und gestalten in verschiedenen Trägerschaften die höhere Berufsbildung mit. Im bildungspolitischen Umfeld engagieren wir uns generell für die Schaffung guter Rahmenbedingungen.

Finden Reformen im Bildungsbereich heute noch in ­einem angemessenen Tempo statt?

Sowohl die technologische als auch die gesellschaftliche Entwicklung schreiten enorm schnell voran. Das ist eine Tatsache. Wir sind in allen Bereichen – nicht nur in der Bildung – gefordert, damit Schritt zu halten. Ich bin überzeugt, dass uns dies in der Bildung gelingt. Dass unsere Berufsbildung zeitgemäss ist, stützt auch die Einschätzung im Bildungsbericht. Die Berufsbildung ist für den Fachkräftenachwuchs in unserer Branche nach wie vor der wichtigste Zugang zum Beruf. Zwei Drittel der jungen Mitarbeitenden kommen über den Berufsbildungsweg. Wir stellen zudem einen starken Trend zu tertiären Abschlüssen fest. Dies gilt sowohl generell gesellschaftlich als auch in unserer Branche. Auch die Absolventen tertiärer Abschlüsse haben zu einem grossen Teil einen Berufsbildungsbackground, denn der Anstieg der Maturitätsquoten beruht zu grossen Teilen auf dem Anstieg der Berufsmaturitäten. Es ist wichtig, der Bevölkerung bewusst zu machen, dass die Berufsbildung ein gleichwertiger Weg ist, der – mit, aber auch ohne Berufsmatur – in die Tertiärisierung führen kann. Unsere Herausforderung besteht unter anderem darin, dass viele unserer Berufe hohe Anforderungsprofile haben, die auf leistungs- und lernstarke Schülerinnen und Schüler ausgerichtet sind. Wir sind gefordert, den Interessierten, Eltern und Lehrpersonen die hervor­ragenden Entwicklungsmöglichkeiten auf Basis der Berufsbildung aufzuzeigen.

Welche Rolle spielt die Zukunftsfähigkeit eines Berufs?

Die Zukunftsfähigkeit ist ein sehr wichtiges Thema. Es beinhaltet zum einen die Entwicklungsmöglichkeiten, zum anderen die Frage, ob die erlernten Kompetenzen auch in Zukunft noch gebraucht werden. Wir sehen seit Jahren eine starke Verschiebung des Kompetenzbedarfs. Insbesondere in der Industrie ist die Automatisierung durch Digitalisierung schon weit fortgeschritten. Repetitive Tätigkeiten werden immer weniger benötigt. Die Berufe entwickeln sich mit den neuen Anforderungen stetig weiter. Ein Beispiel: Früher war Polymechaniker ein handwerklicher Beruf, heute bedarf er vieler Fähigkeiten im digitalen Bereich. Eine CNC-Maschine muss programmiert und bedient werden können. Diese Schnittstelle zwischen Mensch und Technik verlangt nicht nur Technologiewissen, sondern auch Sozialkompetenzen. Diese bilden deshalb ein wichtiges Element in der Berufsbildung.

Dr. Sonja Studer

ist Mitglied der Geschäftsleitung bei Swissmem und verantwortlich für den Bereich Berufsbildung.

Über Swissmem

Swissmem ist der Verband der Schweizer Tech-Industrie (Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie sowie verwandter technologieorientierter Branchen). Er vertritt die Interessen von rund 1400 Unternehmen vom Konzern bis zum KMU hinsichtlich der Rahmenbedingungen in Politik, Wirtschaft und Berufsbildung. Der Verband engagiert sich mit diversen Projekten und mit einer Weiterbildungsakademie, um Fachkräfte zu gewinnen und zu entwickeln. Swissmem Berufsbildung ist verantwortlich für neun Berufe mit rund 10000 Lernenden: Anlagen- und Apparatebauer/in, Automatikmonteur/in, Automatiker/in, Elektroniker/in, Kaufmann/-frau (MEM-Branche), Konstrukteur/in, Mechanikpraktiker/in, Polymechaniker/in, Produktions­mechaniker/in.

swissmem.ch

Berufsbildner berichten, dass Grundkompetenzen heutzutage fehlen. Gilt das auch für Ihre Branche?

Wir bekommen Rückmeldungen dieser Art, haben aber keine systematischen Erhebungen durchgeführt. Um Lernrückstände aufzuholen, bieten Unternehmen oder Ausbildungsverbünde beispielsweise Lerncoachings an. Für KMU wird dies etwas schwieriger, aber auch hier lassen sich in Kooperationen mit anderen KMU Lösungen finden. Wir setzen bei den Berufsrevisionen konsequent auf eine handlungskompetenzorientierte Ausbildung. Das heisst, wir vermitteln die geforderten Fähigkeiten in einem Kontext, in dem sie im beruflichen Alltag konkret gefragt sind. Dies ist auch eine Chance für kognitiv schwächere Schüler, den Lernstoff einzuordnen – man lernt eben nicht des Lernens willen, sondern um dieses Wissen in der Praxis einzusetzen.

Geschlechterstereotypen sind noch heute stark verankert. Inwiefern ist dies ein Problem für die technischen Berufe?

Das ist schon seit vielen Jahren ein schwelendes Thema. Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, einerseits den Mädchenanteil in unseren beruflichen Grundbildungen, aber auch generell den Frauenanteil in der Industrie zu erhöhen. Der Diversity- and Inclusion-Benchmark der Universität St. Gallen zeigt beispielsweise, dass in unseren Unternehmen der Frauenanteil zwar insgesamt sehr klein, im Verhältnis dazu der Anteil der Frauen in Führungsposition aber höher ist als in anderen Branchen. Wir haben in der Tech-Industrie weniger Frauen als beispielsweise die Bankbranche, aber einen ungefähr gleich grossen Anteil von Frauen auf den Führungsebenen. Dies zeigt, dass Frauenförderung unseren Unternehmen ein Anliegen ist. Trotzdem ist es noch immer eine gesellschaftliche Tatsache, dass Mädchen aus einem sehr viel geringeren Berufsspektrum wählen als Jungen. Als Branchenverband haben wir hier nur beschränkte Einflussmöglichkeiten.

Wie gehen Sie mit dieser Problematik um?

Wir können Mädchen und jungen Frauen bewusst machen, dass sie technisch ebenso kompetent sind wie ihre männlichen Kollegen. Damit muss man früh beginnen, weshalb wir uns auch in der MINT-Förderung im Volksschulalter engagieren, denn in diesem Alter sind die Geschlechtsstereotypen noch nicht so ausgeprägt. Wenn sich ein Kind früh als technisch kompetent erlebt, wird es auch mehr Interesse an technischen Berufen haben. Wir nehmen wahr, dass Kinder und Jugendliche allgemein weniger Berührung mit der Technik haben. Sie ist zwar allgegenwärtig, aber sie ist nicht mehr zugänglich. Man schraubt nicht mehr am Computer oder am Automotor herum. Die Erfahrung mit Technik wird abstrakter und die Jugendlichen lernen nicht, dass sie mit Technik etwas bewegen können.

Können Sie Trends hin zu besonders beliebten Berufen feststellen?

Der grösste Teil der Jugendlichen interessiert sich für ein sehr kleines Spektrum von Berufen. Dieser Trend ist ungebrochen. Der ICT-Bereich wächst, was gut ist, weil es einen hohen Bedarf gibt. In diesen Berufen hinkt das Angebot an Ausbildungsplätzen der Nachfrage allerdings hinterher. Neue Berufe wie Mediamatiker werden sehr erfolgreich angenommen. Ein neuer Beruf mit dem Titel «Entwickler/in Digitales Business» startete letztes Jahr ebenfalls sehr vielversprechend. Unsere Branche hat eine sehr hohe Ausbildungsbereitschaft, aber nicht alle Unternehmen schaffen es, ihre Lehrstellen zu besetzen. Die Industrie ist im Alltag wenig sichtbar. Die Unternehmen agieren häufig im B2B-Geschäft und produzieren nicht immer Alltagsgegenstände, sondern Komponenten, die für Laien wenig greifbar sind. Deshalb können sich junge Menschen nicht vorstellen, dass es hier interessante Berufe geben könnte. Wir haben jüngst zusammen mit dem Berufsverband Swissmechanic den Verein «Faszination Technik» gegründet, mit dem wir das Berufsmarketing für die technischen Berufe deutlich verstärken möchten. Wir wollen zeigen, dass man in diesen Bereichen sehr viel bewirken kann – sei es in der Energiewirtschaft, für die Nachhaltigkeit oder beispielsweise im Klimaschutz. Wir müssen die Sinnhaftigkeit der Berufe besser aufzeigen – auch weil dies den heutigen Mitarbeitenden generell wichtiger geworden ist.

Können Sie uns weitere Beispiele für Initiativen geben, mit denen der Verband dem Fachkräftemangel in der Branche begegnet?

Wir legen viel Wert darauf, auch Quereinsteigern den Zugang zur Branche zu ermöglichen. Vor einigen Jahren haben wir zusammen mit unseren GAV-Sozialpartnern die MEM-Passerelle 4.0 AG (mem-passerelle.ch) gegründet. Damit möchten wir den Quereinstieg in die Industrie für entwicklungsbereite Berufsleute vereinfachen. Wir zielen dabei auf Menschen ab, die bereits einen Berufsabschluss haben und sich umorientieren müssen oder wollen. Diesen Interessenten möchten wir den Umstieg erleichtern und ihre Qualifikation gemeinsam entwickeln. Inzwischen wurde die Aufbauarbeit geleistet und seit Mitte letzten Jahres ist das Angebot der MEM-Passerelle 4.0 auf dem Markt. Herzstück der MEM-Passerelle ist eine digitale Plattform, auf der sich entwicklungsbereite Berufsleute und Unternehmen mit Fachkräftebedarf finden können. Mit Hilfe von Eignungschecks und individuellen Abklärungen können sie den Entwicklungsbedarf ermitteln und darauf abgestützt gezielte Bildungsmassnahmen umsetzen. Es ist ein modulares Konzept, das auf der gründlichen Analyse bereits vorhandener Kompetenzen aufbaut.

Welche zukünftigen Entwicklungen im Bereich der Berufsbildung antizipieren Sie in Ihrer Arbeit?

Wir beschäftigen uns im Zuge der aktuellen Berufsrevision FUTUREMEM sehr stark mit der Zukunft unserer Berufe. In dieser Revision revidieren wir alle acht technischen Berufe erstmals nicht nur parallel, sondern horizontal und vertikal integriert. Das heisst, wir verbessern die Durchlässigkeit zwischen den Berufen, gestalten die Ausbildung konsequent handlungskompetenzorientiert und stärken die Kooperation zwischen den drei Lernorten – also dem Ausbildungsbetrieb, der Berufsfachschule und den überbetrieblichen Kursen. Es geht also nicht nur um neue Technologien und Inhalte, sondern wir wollen alle Stakeholder dafür gewinnen, die Berufsbildung fit für Veränderung zu machen.

Take Aways

  • Die Berufsbildung ist der wichtigste Zugang zur Tech-Branche, die unter Fachkräftemangel leidet. Gleichzeitig gibt es einen gesellschaftlichen Trend zu tertiären Abschlüssen. Leistungsstarken Schülern und Schülerinnen ist oft nicht bewusst, dass Berufe mit hohen Anforderungsprofilen eine ebenbürtige Alternative zum Gymnasium darstellen.
  • Die Berufsbildung bietet über die höhere Berufsbildung sowie die Fachhochschulen einen praxisorientierten und wirtschaftsnahen Weg in die Tertiärisierung.
  • Das Verständnis für technische Berufe und deren Sinnhaftigkeit (Purpose) muss stärker gefördert werden. Dies auch darum, weil junge Menschen heute Technik im Alltag weniger aktiv gestalten als passiv nutzen.
  • Kompetenzen: Neben technischen Kompetenzen sind auch Sozial-, Handlungs- und Problemlösungskompetenzen wichtig. Diese werden in der Berufsbildung entsprechend gefördert.
  • Mit der MEM-Passerelle 4.0 AG soll Quereinsteigern aus anderen Fachberufen eine Möglichkeit eröffnet werden, über eine Matching-Plattform und modulare, individuell zugeschnittene Ausbildungen in einen neuen Tech-Beruf zu wechseln.
  • Zukünftige Entwicklungen werden derzeit in einer integrierten Berufsrevision antizipiert, deren Ziel es ist, die Ausbildungsberufe der Tech-Industrie fit für die zukünftigen Anforderungen zu halten.

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