Deutsche sind Weltmeister im Krankmelden

Dienstag, 28. Januar 2025
Die Arbeitnehmenden in unserem nördlichen Nachbarland sind fast doppelt so oft krank wie der EU-Durchschnitt, berichtet «The Economist». Ein Grund könnte die grosszügige Lohnfortzahlungspflicht und der einfache Zugang zu Krankschreibungen sein.

Historisch gesehen ist Deutschland ein Vorreiter bei den Arbeitnehmerrechten in Bezug auf ihre Gesundheit. 1883 führte Otto von Bismarck das weltweit erste gesetzliche Krankenversicherungssystem ein, das auch bezahlten Krankenstand umfasste. Bismarcks Gesetz war weniger aus Sorge um das Wohlergehen der Arbeiter motiviert, sondern vielmehr eine Strategie, um Sozialisten auf ihrem eigenen Spielfeld zu schlagen. Dennoch legte es den Grundstein für den deutschen Wohlfahrtsstaat und wurde durch Gesetze zur Unfall- und Invalidenversicherung ergänzt.

Wirtschaft kann sich so viele Krankheitstage nicht leisten

Deutsche Arbeitgeber warnen nun, dass diese wegweisende Politik zu einem Handicap geworden sei. Deutschland sei mittlerweile «Weltmeister bei den Krankheitstagen», so Oliver Bäte, Chef von Allianz, gegenüber «The Economist». Bäte forderte demnach die Einführung eines «Karenztages» (eines unbezahlten ersten Krankheitstages), was seiner Einschätzung nach Einsparungen von 40 Mrd. Euro jährlich ermöglichen könnte. Deutsche Arbeitnehmer fehlen im Durchschnitt 15 Tage pro Jahr aufgrund von Krankheit, verglichen mit 8 Tagen im EU-Durchschnitt.

Auch Ola Källenius, Chef von Mercedes, stimmt Bäte zu. Er warnt vor den «wirtschaftlichen Konsequenzen» der Krankheitsrate in Deutschland, die oft doppelt so hoch sei wie in anderen europäischen Ländern. Mercedes produziert auch in Ungarn, Rumänien, Spanien und Polen, in Fabriken mit vergleichbaren Arbeitsbedingungen, jedoch mit deutlich weniger krankheitsbedingten Ausfällen. Solche Hindernisse kann die deutsche Wirtschaft angesichts einer anhaltenden Rezession, hoher Energiekosten und eines drohenden Handelskriegs kaum gebrauchen.

Je grosszügiger das System, desto häufiger melden sich Arbeitnehmende krank

Es gebe eine klare Korrelation zwischen der Grosszügigkeit des Systems und der Anzahl der Krankheitstage, sagt Nicolas Ziebarth vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Deutschlands Regelungen seien im Vergleich zu anderen europäischen Ländern grosszügig und einfacher auszunutzen. Arbeitnehmer erhalten vom ersten Krankheitstag an bis zu sechs Wochen lang 100% ihres Gehalts. In Grossbritannien haben Arbeitnehmende in den ersten drei Krankheitstagen keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung und erhalten danach 117 Pfund pro Woche – einen Bruchteil ihres Gehalts. 2022 nahmen Briten im Durchschnitt nur 6 Krankheitstage. 2023 wurde es in Deutschland einfacher, sich krankzumelden, da Arbeitnehmer eine elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung telefonisch anfordern konnten, ohne persönlich einen Arzt aufzusuchen.

Vielleicht sollte Deutschland einen skandinavischeren Ansatz verfolgen, meint «The Economist». Schweden hatte früher einen Karenztag, dieser wurde jedoch vor einigen Jahren abgeschafft. Auch Ziebarth spricht sich gegen die Einführung eines solchen in Deutschland aus, da er befürchtet, dass Kranke zur Arbeit gehen könnten, was andere anstecken oder gar Unfälle verursachen könnte. In Schweden zahlen Arbeitgeber jedoch zwei Wochen lang 80% des Gehalts eines Arbeitnehmers, danach übernimmt eine Krankenversicherung die Zahlungen. Das wohl innovativste Merkmal des Systems ist jedoch die Teilkrankschreibung: Ärzte können feststellen, dass eine Person krank ist, aber dennoch in der Lage, teilweise zu arbeiten – etwa mit verkürzten Arbeitszeiten. Politiker stehen vor der schwierigsten Aufgabe: das richtige Gleichgewicht zu finden, um wirklich kranken Arbeitnehmern Zeit zur Genesung zu geben, ohne eine Art von Krankheitsausnutzung zu fördern, die Bismarck sicherlich missbilligt hätte.

Artikel teilen


Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.

Folgen sie uns auf