«Führung neu denken heisst, Verantwortung gemeinsam zu tragen»

Donnerstag, 27. November 2025 - Karen Heidl
Die Anforderungen an Führung steigen, doch die alten Rezepte tragen nicht mehr. HR-Managerin und Organisationsberaterin Denise Jentsch ­plädiert für präzisere Rollen, echte Selbstführung und Peer-Feedback statt ritualisierter Jahresgespräche.
Frau Jentsch, Sie kommen ursprünglich aus dem Tourismus und arbeiten heute als Mitinhaberin der selbstorganisierten Genossenschaft «waldner partner» für ein Projektberatungsunternehmen im Bereich Architektur, Städtebau und Immobilien, wobei Ihr Angebot auch Organisationsentwicklung umfasst. Wie hat Sie dieser Weg geprägt?

Ich habe Tourismus studiert und war viele Jahre in inhabergeführten, kleineren und mittleren Unternehmen tätig. Mir war es immer wichtig, mitgestalten zu können; das prägt mich bis heute. Vor über zehn Jahren habe ich in die HR-Welt gewechselt und später mit Kolleginnen und Kollegen aktiv den Nachfolgeprozess von unserem ursprünglich patronal geführten Projekt­beratungsunternehmen in eine Genossenschaft mitgestaltet. Heute orientieren wir uns an den Prinzipien der Holokratie und Soziokratie und führen das Unternehmen gemeinsam ohne klassische Hierarchie. Unsere Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Transformationsprozess teilen wir, indem wir Organisationen begleiten, die ähnliche Wege einschlagen wollen. Dabei geht es um nicht weniger, als Zusammenarbeit neu zu denken.

Denise Jentsch

ist Mitinhaberin der Genossenschaft «waldner partner» in Zürich, die Organisationen bei Nachfolge- und Transformationsprozessen begleitet. Nach einem Studium im Tourismussektor und mehreren Jahren in inhabergeführten Unternehmen wechselte sie 2012 in die HR-Welt und spezialisierte sich auf systemische Organisationsberatung und Coaching sowie selbstorganisierte Führungsmodelle nach soziokratischen und holokratischen Prinzipien. Heute berät sie Firmen, die Zusammenarbeit, Verantwortung und Führung neu gestalten wollen.
(Foto: Alexandre Kapellos)

In Ihrer Beratung erleben Sie viele Führungskräfte, insbesondere im mittleren Management. Was belastet diese heute am meisten?

Das mittlere Management meistert einen enormen Spagat. Nach oben müssen Zahlen geliefert werden, nach unten sollen sie empathisch führen, coachen, entwickeln. Gleichzeitig bleiben viele strukturelle Fehler bestehen, etwa dass nach wie vor die besten Fachpersonen zu Führungskräften befördert werden. Sie sind zwar fachlich top, möchten aber oft lieber operativ arbeiten, statt zu führen. Zudem werden Führungskräfte in Trainings häufig in alten Denkmustern geschult. Themen wie gewaltfreie Kommunikation, Selbstführung oder Entscheidungsfindung auf Augenhöhe kommen kaum vor. Es prallen also alte Strukturen mit neuen Erwartungen zusammen. Das erzeugt Spannungen und Überforderung.

Oft wird heute verlangt, dass Führungskräfte zu Coaches werden. Ist das realistisch?

Nicht wirklich. Coaching bedeutet, Fragen zu stellen und den anderen zu eigenen Lösungen zu führen. Das setzt Ausbildung, Zeit und Haltung voraus. Viele Führungskräfte sind aber gar nicht dazu befähigt. Vielleicht braucht es andere Rollenbegriffe: weniger Coach, mehr Facilitator oder Ermöglicher. Wir kommen aus Jahrzehnten von Command-and-Control-­Logik. Diese Denkmuster verschwinden nicht über Nacht.

Sie haben erwähnt, dass in Ihrer Organisation Selbst­organisation gelebt wird. Was verändert sich dadurch?

Selbstorganisation ist kein Chaos, sondern braucht klare Strukturen. Der Abstimmungsaufwand ist hoch, aber Verantwortung wird breiter getragen. Das Verantwortungs­gefühl verteilt sich auf viele Schultern. Das ist anspruchsvoll, aber auch befreiend. Menschen übernehmen mehr Eigenverantwortung, wenn sie Entscheidungen mittragen dürfen.

In letzter Zeit ist zunehmend von einer gesellschaftlichen Rückwärtsbewegung die Rede. Spüren Sie einen entsprechenden Backlash auch in der Transformation der Arbeitswelt, und was bedeutet ein solcher für die Führung?

Ich beobachte neben Aufbruch auch eine Tendenz hin zum Zumachen aus Angst vor grosser Veränderung. Konservative Diskurse und politische Kräfte, die wenig Kooperation fördern, verstärken den Druck auf Organisationen. Dadurch wächst der Widerspruch zwischen Kennzahlenlogik und der Erwartung an empathische, partizipative Führung. Das Topmanagement fordert Daten und Ergebnisse, zugleich soll mehr Selbstorganisation ermöglicht werden. Dieser Zielkonflikt vergrössert die Belastung insbesondere in der Mitte.

Welche klassischen Führungsaufgaben würden Sie heute neu verteilen?

Ich würde etwa die Mitarbeitenden-Beurteilungen weg von der reinen Führungsverantwortung nehmen. Peers können Leistung oft besser einschätzen als Vorgesetzte. Das jährliche Beurteilungsgespräch, und dann vielleicht noch im engen Korsett von Boni-Systemen, ist für alle frustrierend. Peer-Feedback-Formate wären ehrlicher und motivierender. Auch die Rekrutierung sollte nicht allein bei der Führungskraft liegen. In unserer Genossenschaft führen Teams die Gespräche gemeinsam. Die Führung braucht Freiraum, um strategisch zu denken, die Weiterentwicklung von Menschen zu ermöglichen und Orientierung zu geben. Dazu gehört auch, Wissen weiterzugeben, als Mentor oder Mentorin, statt Weiterbildung vollständig auszulagern.

Welche Rolle kommt HR in einer modernen Organisation zu?

HR sollte näher an den Menschen arbeiten und kulturelle Entwicklungen aktiv mitgestalten. In vielen Unternehmen ist HR noch zu weit weg vom Tagesgeschäft oder nicht gleichberechtigt in der Geschäftsleitung vertreten. Modelle wie HR-Business-Partner funktionieren nur, wenn diese Rolle die Teams wirklich kennt und deren Dynamiken spürt.

Was hilft, Führungskräfte in der heutigen Komplexität zu entlasten?

Erstens: Verantwortung verteilen – mit klaren Rechten und Pflichten. Menschen brauchen Entscheidungsfreiräume, sonst bleiben sie abhängig und passiv. Zweitens: Selbstführung stärken. Nur wer sich selbst führen kann, kann andere führen. Dazu gehört, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu kennen und regelmässig zu reflektieren. Und drittens: Zeit zum Denken schaffen. Viele Führungskräfte sind nur noch in Feuerwehrübungen unterwegs. Sie brauchen Räume, um Prioritäten zu ordnen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

New Work wird oft als Lösung verkauft, kann aber auch zusätzliche Belastung bringen. Wie sehen Sie das?

Hilfreich sind rollenbasiertes Arbeiten mit klaren Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen sowie eine Kultur von «good enough to start and safe enough to try». Das stärkt den Mut, Neues auszuprobieren, und ermöglicht kontinuierliches Lernen. Überfordern können zu viele Tools und Kommunikationskanäle. Wenn die Informationswege unklar sind, entsteht Chaos statt Entlastung. Trotz aller digitalen Möglichkeiten bleiben persönliche Gespräche unverzichtbar, um Vertrauen und Verbindung zu schaffen.

Zum Schluss: Welche drei Reflexionsräume sollten Führung und HR heute gemeinsam öffnen?

Selbstführung beginnt mit der Bereitschaft, eigene Muster zu reflektieren. Viele Probleme haben ihren Ursprung darin, dass wir an alten Denkweisen festhalten. Wir müssen lernen, loszulassen statt zu kontrollieren – Micromanagement ist selten die Lösung. Führung neu zu denken, bedeutet für mich, Verantwortung gemeinsam zu tragen – nicht weniger, sondern bewusster.

Take Aways

  • Führung im mittleren Management ist heute ein Balanceakt zwischen Kennzahlen, Empathie und Selbstorganisation.
  • Die besten Fachpersonen sind nicht automatisch gute Führungskräfte – systemische Auswahlfehler müssen korrigiert werden.
  • HR sollte näher an die Teams rücken und Verantwortung für kulturelle Entwicklung übernehmen.
  • Selbstführung und Reflexion sind zentrale Kompetenzen moderner Führung.
  • New Work gelingt nur, wenn Vertrauen, Kommunikation und klare Strukturen zusammenspielen.

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