«Führung wird heute oft mit Nettigkeit verwechselt»

Donnerstag, 27. November 2025 - Simon Bühler
Arbeits- und Organisationspsychologin Martina Egli wirkt seit fünf Jahren als «Chef-Recruiterin» der Schweizer Armee. Aktuell untersucht sie im Rahmen ­ihrer Doktorarbeit, wie psychologische Sicherheit, Führungsstile und Lern­kultur zusammenwirken und inwiefern eine Fehlerkultur auch unter Drill möglich ist.
Frau Egli, Sie arbeiten inzwischen bald zwölf Jahre für die Schweizer Armee – was hat Sie als junge Frau motiviert, in einer traditionell stark männlich geprägten Institution Ihre Berufskarriere zu starten?

In meinem Psychologie-Bachelor-Studium hat mich ein Paper über militärische und zivile Führung so fasziniert, dass ich meinen Master in Arbeits- und Organisationspsychologie bewusst bei dessen Autor, Prof. Norbert Semmer, absolviert habe. Danach habe ich mir drei Monate Zeit gegeben, um einen Job bei der Armee zu finden – und bin bis heute geblieben. Dass die Armee traditionell und stark männlich geprägt ist, hat bei diesem Entscheid keine Rolle gespielt. Mir ging es um die Symbiose von Wissen und Wirkung. Diese sachorientierte Zusammenarbeit auf Augenhöhe hat mich geprägt und begeistert mich bis heute. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Leadership für die Milizkaderausbildung habe ich erlebt, wie unmittelbar Führungsverhalten wirkt und wie Kultur und Haltung Lernfähigkeit beeinflussen. 2019 bin ich ins HR in der Militärverwaltung gewechselt, wo ich heute den Bereich Personalrekrutierung und -marketing sowie Personal- und Organisationsentwicklung leite. Das umfasst rund 9500 Lohnbeziehende der Gruppe Verteidigung mit einer beeindruckenden Jobvielfalt von A wie Armeeapotheker bis Z wie Zeitmilitär. Bis heute fasziniert mich die Kombination aus Sinn, System und Wirkung: In einem Umfeld, das Disziplin fordert, darf HR hier neben Reflexion auch die Entwicklung prägen und Menschlichkeit einbringen.

Martina Egli

ist Leiterin Personalrekrutierung und Personal- und Organisationsentwicklung der Gruppe Verteidigung in der Schweizer Armee und in dieser Funktion für 9600 Angestellte aus 4 militärischen und 200 zivilen Berufsgruppen verantwortlich. Die Arbeits- und Organisationspsychologin ist seit über zwölf Jahren in verschiedenen HR-Funktionen innerhalb der Armee tätig und promoviert derzeit am Center for Human Resource Management der Universität Luzern.

In ihrer Forschung analysiert sie, wie psychologische ­Sicherheit, Fehlerkultur und unterschiedliche Führungsstile in einem Wettbewerbsklima die Lernleistung und Karriereentwicklung in hierarchischen Organisationen beeinflussen.

Kommt es nach dem Hype um flache Hierarchien in den aktuellen Krisenzeiten zu einem Comeback des Top-down-Konzepts und damit zu einer rehabilitierenden Renaissance autoritärerer Führungsstile?

Ich nehme weniger ein Comeback des Autoritären wahr als vielmehr eine Rückkehr zur Klarheit. In Krisen brauchen Menschen Orientierung, wer entscheidet, was gilt und wie Sicherheit entsteht. Das ist keine Rückwärtsbewegung, sondern eine Rejustierung. In Krisenzeiten lässt sich vielerorts eine Rückkehr zu Top-down-Strukturen und entsprechenden Führungsstilen beobachten, allerdings meist nur temporär und mit klaren Grenzen. Studien zeigen, dass in Phasen hoher Unsicherheit oder plötzlicher Krisen starke, entscheidungsfreudige Führungspersönlichkeiten verstärkt nachgefragt werden, weil sie Orientierung und Handlungssicherheit bieten. Menschen wünschen sich dann klare Ansagen, nachvollziehbare Entscheidungen und das Gefühl, dass jemand Verantwortung übernimmt. Forschungsergebnisse zeigen aber auch, dass rein autoritäre Top-down-Konzepte langfristig Innovationskraft und Motivation schwächen. Nachhaltig leistungsfähig bleiben Organisationen, wenn sie Entscheidungsstärke mit Empathie und Beteiligung verbinden.

Sie haben an einem HR-Netzwerktreffen der Universität Luzern einen Einblick in Ihre aktuelle Doktorarbeit gegeben. Ihr Referat trug den Titel «Kultur drillt Führung». Welche Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten, die auch in der zivilen Arbeitswelt für HR relevant sind?

Das Doktorat entstand aus einem Forschungsprojekt mit der Milizarmee, wo wir unter anderem die Frage untersuchten, wie Lernen in stark strukturierten und hierarchischen Umfeldern gelingen kann. Meine Daten zeigen: Hierarchie ist kein Hindernis per se, doch ihre Wirkung auf Lernen ist kulturell bedingt. Entscheidend ist das Zusammenspiel von Führung und Kultur. Nicht durch Zwang, sondern durch Prägung. Für HR oder die Arbeitswelt bedeutet das: Führung darf nicht isoliert entwickelt werden, sondern immer im Zusammenspiel mit der organisationalen Kultur. Denn Kultur drillt Führung, sie diszipliniert, rahmt und befähigt sie zugleich. Lernfähigkeit ist kein Zufallsprodukt, sondern Ergebnis eines Systems, das Reflexion, Fehleroffenheit und geteilte Verantwortung fördert. Wenn Führungskräfte und Teams ein gemeinsames Verständnis davon entwickeln, was Lernen im Alltag bedeutet, entsteht ein «Safe Ground for Growth», worauf echte Entwicklung stattfinden kann. Meine Kollegin Dr. Manuela Morf hat es in ihrem Korreferat treffend formuliert: «Sicherheit schafft Raum, geteilter Sinn und Leichtigkeit schaffen Wirkung.» HR kann diesen Raum aktiv gestalten, durch Feedbacksysteme, strukturierte Reflexionsformate und eine Kultur, die Mut zur Stimme statt Angst vor Fehlern stärkt. Das vermeintliche Paradoxon zwischen Drill, Gehorsam und Lernen löst sich auf, wenn Reflexion Teil der Routine wird. In der Ausbildung fördert die Schweizer Armee deshalb sogenannte «After Action Reviews»: kurze, strukturierte Nachbesprechungen, in denen die Miliz die Situation debrieft. Das schafft Verantwortung und Lerntransparenz auf allen Stufen. Meine Forschung zeigt, dass genau dieses Prinzip wirkt: Lernen entsteht im Spannungsfeld zwischen Struktur und Reflexion. Führung gibt Orientierung, Kultur schafft Raum. Der After Action Review ist ein systemisches und systematisches Feedbackformat, das Sicherheit bietet, kritische Punkte offen anzusprechen. Wenn beides zusammenkommt, führen Drill und Gehorsam zu einer Lernarchitektur und nicht zu Denkblockaden. Lernfähigkeit ist heute eine sicherheitsrelevante Kompetenz.

Sie haben im Rahmen der militärischen Grundausbildung, konkret in der Rekrutenschule, drei Führungsstile untersucht: transformational, transaktional und laissez faire. Können Sie deren Wirkung mit der Kultur auf den Lernerfolg kurz erläutern?

Transformationale Führung schafft den Raum für Lernen. Sie vermittelt Sinn, fördert Reflexion und ermutigt zum Ausprobieren. Transaktionale Führung sichert den Rahmen, gibt Struktur, klärt Erwartungen und bietet Rückmeldung. Beide Führungsstile wirken positiv auf das job­bezogene Lernen, aber auf unterschiedliche Weise. Kultur, konkret psychologische Sicherheit, verstärkt diese Effekte. In Teams mit einer offenen, vertrauensvollen Lernkultur entfalten beide Führungsstile ihre Wirkung stärker. In einem System mit klaren Routinen und starkem Gruppenzusammenhalt kann selbst eine zurückhaltende Laissez-faire-Führung funktionieren, zumindest kurzfristig. Das zeigt, wie stark Kontext und Kultur das Führungshandeln rahmen. Die drei Stile sind kein Entweder-oder, sondern ein System von Wechselwirkungen. Transformationale Elemente geben Sinn und fördern Eigenverantwortung, transaktionale schaffen Struktur und Verlässlichkeit. Beides braucht es. Laissez-faire hingegen bedeutet, passiv zu bleiben, was Lernerfolg und Kohäsion deutlich schwächt.

Wie gelingt es, dass gerade junge Führungskräfte zwischen «nett sein» und «wirksam führen» besser unterscheiden können – und wie kann HR dabei unterstützen?

Das betrifft längst nicht nur die junge Generation. In vielen Organisationen wird Führung heute mit Nettigkeit verwechselt. Diese zielt oft auf Beziehungspflege und Konfliktvermeidung ab, während Wirksamkeit auf gemeinsame Zielerreichung und Lernen aus Reibung ausgerichtet ist. Wirksam führen heisst, Erwartungen zu klären, Feedback zu geben und auch einmal Nein zu sagen, ohne Wertschätzung zu verlieren. Studien zeigen, dass Teams, die in einer Kultur von Empathie und Accountability geführt werden, produktiver und engagierter sind, weil sie sowohl Sicherheit als auch klare Erwartungen erleben. Wirksamkeit entsteht, wenn Führung ­Empathie mit Konsequenz verbindet, echtes Zuhören, ­ehrliches Feedback und die Bereitschaft, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen. Das heisst Mut zur Klarheit statt Angst vor Ablehnung. Führungskräfte, die sogenannte «Kind Candor» leben, also Freundlichkeit mit ­Direktheit koppeln, fördern Vertrauen und Leistung zugleich. HR spielt dabei eine zentrale Rolle. Es muss Räume und Instrumente schaffen, in denen Führung reflektiert und Wirkung sichtbar wird. Dazu gehören Trainings, Coaching und insbesondere Feedbacksysteme, die Lern- und Führungsverhalten fördern. In der Militärverwaltung haben wir beispielsweise 360°-Feedbacks implementiert, um eben nicht nur Leistung, sondern auch Führungsverhalten zu erfassen. Zudem sind unsere Unternehmenswerte im Performance Management verankert, sodass Führungskräfte ihr Handeln direkt an diesen Leitlinien spiegeln können.

Im militärischen Kontext dominieren klare Hierarchien und Drill. Interessanterweise identifizieren Sie psychologische Sicherheit als Schlüsselelement der Lernkultur. Wie kann diese – auch von HR – gezielt gefördert werden?

Klar strukturierte Systeme wie das Militär leben von Verlässlichkeit und Befehlsketten, aber Lernprozesse innerhalb solcher Strukturen brauchen gleichzeitig Räume, in denen Menschen sich trauen, Fragen zu stellen, Unsicherheiten zu benennen oder Fehler zu reflektieren. Hier setzt psychologische Sicherheit an. Sie ist kein Nice-to-have, sondern ein Leistungsfaktor, der Vertrauen, Kommunikation und kollektive Intelligenz ermöglicht. Psychologische Sicherheit ist ein sozial-kognitives Konstrukt. Sie beschreibt die geteilte Wahrnehmung, dass man in einem Team offen sprechen kann, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Sie ist auf individueller, Team- und Organisationsebene konstruierbar und gezielt entwickelbar. Das bedeutet, dass Führung sie aktiv gestalten und HR sie systematisch verankern kann. Führungskräfte fördern psychologische Sicherheit, indem sie Respekt, Transparenz und Beteiligung vorleben, etwa indem Erfolge und Fehler besprechbar sind, ohne Schuldzuweisungen. Auch bewusste Verwundbarkeit – zu eigenen Lernfeldern stehen, Fragen stellen, Feedback einholen – wirkt stark vertrauensbildend. HR spielt dabei die Rolle des systemischen Trainers und sorgt dafür, dass Führungskräfte psychologische Sicherheit nicht als Gegensatz zu Autorität verstehen, sondern als deren moderne Weiterentwicklung in lernfähigen Organisationen.

Unabhängig vom Führungsstil scheinen alte Tugenden wie Mut und Haltung wieder an Bedeutung zu gewinnen. Wie kann HR diese Qualitäten in der Personalentwicklung fördern?

Mut und Haltung haben eine stabile Basis in Werten und Selbstwirksamkeit. Sie sind durch Reflexion und Erfahrung trainierbar. Mut zeigt sich nicht im heroischen Moment, sondern im Alltag, wenn jemand eine unbequeme Wahrheit ausspricht, zu eigenen Fehlern steht oder Verantwortung übernimmt, auch wenn es einfacher wäre zu schweigen. Haltung gibt Orientierung, Mut sorgt für Umsetzung. Beides zusammen bildet den Kern verantwortungsvoller Führung. Haltung bedeutet, die eigenen Werte zu kennen und sie auch dann zu vertreten, wenn sie unbequem sind. Mut bedeutet, diese Werte im Handeln sichtbar zu machen. In der Führungsentwicklung heisst das, Räume zu schaffen, in denen Führungskräfte ihr Wertesystem reflektieren und lernen, es im Alltag wirksam umzusetzen. HR ist gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Mut belohnen statt sanktionieren und so psychologische Sicherheit und Entscheidungsfreude gezielt stärken.

In der zivilen Arbeitswelt ist – insbesondere im Middle-Management – zunehmend eine Überforderung von Führungskräften zu beobachten. Wie erleben Sie dieses Phänomen im militärischen Kontext?

Überforderung ist kein rein ziviles Phänomen. Auch im Militär zeigt sich Überforderung dort, wo Verantwortung steigt, aber Entscheidungsspielräume verengen. Besonders mittlere Führungsebenen sind betroffen: Sie tragen operative Verantwortung und müssen gleichzeitig mit Bürokratie und Personalmangel umgehen. Klare Rollen und kollektive Sinnorientierung bieten Stabilität, können aber Handlungsspielräume einengen. Meine Forschung zeigt, dass psychologische Sicherheit und Feedbackprozesse entscheidende Puffer sind gegen Erschöpfung und Rollenkonflikte. Führungskräfte, die in einem Klima arbeiten, in dem sie Fragen stellen oder Zweifel äussern dürfen, geben diese Haltung weiter. Wo das fehlt, entstehen Druck, Erschöpfung und Rollenkonflikte – Muster, die sich auch im zivilen Middle-Management finden.

Welche HR-Instrumente können der Überforderung entgegenwirken?

HR kann gezielt gegensteuern durch Instrumente, die Struktur entlasten und Selbstwirksamkeit stärken. Dazu gehören klare Rollen- und Auftragsdefinitionen, Priorisierungstools und Kommunikationsstandards, die kognitive Last reduzieren. Ergänzend helfen Führungsentwicklung, Peer-Learning und Coaching, um emotionale und moralische Belastungen zu verarbeiten, bevor sie zu Erschöpfung führen. Digitale und organisatorische Entlastungen, etwa automatisierte Prozesse, zentrale HR-Supportstrukturen und klare Eskalationswege, schaffen den Raum, damit Führung wieder dort wirken kann, wo sie hingehört: bei den Menschen. Unsere HR-Tools sind so konzipiert, dass sie die Vielfalt unserer Organisation abbilden – von hierarchisch strukturierten Bereichen bis hin zu agilen, prozessorientierten Teams.

Was können zivile Organisationen basierend auf Ihren Praxis- und Forschungserkenntnissen von militärischen Strukturen lernen, wenn es darum geht, Führung klar zu definieren und Überforderung zu vermeiden?

Zivile Organisationen können von militärischen Strukturen einiges mitnehmen – etwa Führung als Systemklarheit statt als individuelle Stilfrage zu verstehen. In einer Armee ist Führung kein Privileg, sondern eine Aufgabe mit klaren Rahmenbedingungen. Wer führt, trägt Verantwortung für den Auftrag, aber auch für die Menschen. Diese Verbindlichkeit schafft Orientierung und reduziert Überforderung. Führungskräfte wissen, wofür sie verantwortlich sind, welchen Handlungsspielraum sie haben und wann sie entscheiden müssen. Diese Rollenklarheit wirkt präventiv gegen das Phänomen der Überlastung. Dort, wo alle wissen, wofür sie handeln, wird Führung entlastet, weil Sinn und System zusammenwirken. Ein weiterer Lernpunkt ist die «Mission-Command-Philosophie», also Führung durch Absicht anstelle von Mikromanagement. Das Prinzip «Führe durch Auftrag» bedeutet, dass die Führung Ziel und Rahmen vorgibt, während die Umsetzung in der Verantwortung der Ebene darunter liegt. Dieses Vertrauen stärkt Eigenverantwortung, entlastet Vorgesetzte und fördert Entscheidungsdynamik. Viele Unternehmen könnten durch solche klaren Entscheidungsarchitekturen ihre Führungsarbeit spürbar vereinfachen. Für HR bedeutet das: Rollen und Entscheidungsarchitekturen klären, statt ständig neue Methoden einzuführen. Führung als lernfähiges System gestalten, das durch Feedback, Nachfolgeplanung und Reflexionsräume gestützt wird. Und Delegation sowie Vertrauen fördern, damit Verantwortung dort liegt, wo Kompetenz entsteht. Kurz gesagt: Militärische Strukturen lehren nicht Kontrolle, sondern Klarheit im System. Wer Verantwortung eindeutig definiert und Vertrauen professionalisiert, mindert Überforderung und schafft jene Führungskraft, die in Organisationen allzu oft im Alltagsrauschen verloren geht.

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