Lucia Lanfranconi
ist Hauptinitiatorin und -organisatorin der Tagung «New Work – New Problems?» und seit September 2023 Professorin für Diversity, Equity und Inclusion am Institut New Work der Berner Fachhochschule (BFH).
Frau Prof. Lanfranconi, Sie waren Hauptinitiatorin der Tagung «New Work – New Problems?». Worum ging es in dieser Tagung?
Die zweitägige Konferenz mit fast 40 wissenschaftlichen Beiträgen aus aller Welt bot einen breiten Rahmen für Reflexion und Diskussion unterschiedlicher Perspektiven aus diversen Berufsfeldern und Ländern zum Thema New Work und Gender-Gleichstellung. So ging es beispielsweise um Aspekte der Plattformökonomie in Indien oder der Sexindustrie in der Schweiz. Unsere Leitfrage lautete: Wie kann die Zukunft der Arbeit so gestaltet werden, dass sie gender-gerecht, nachhaltig und fair für alle ist?
Welche Fragen stellen sich beim Thema Gender-Gerechtigkeit und New Work?
Mit New Work verbinden wir die Vorstellung von mehr Selbstbestimmung und Erfüllung, mehr Freiheit, mehr Freizeit und mehr Zeit für Care-Arbeit für alle. Aus dieser Perspektive ergeben sich klar Chancen der neuen Arbeitsformen, auch für mehr Fairness und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern: Mehr Geschlechtergerechtigkeit kann dann gelingen, wenn Unternehmen auch ihre Unternehmenskultur anpassen und etwa ihren Mitarbeitenden mehr Mitspracherecht bei den Fragen geben, was, wann und wie sie arbeiten wollen. Der digitale Wandel spielt dabei eine wichtige Rolle, denn er ermöglicht es, das Arbeitsleben mit dem Privatleben flexibler auszubalancieren. Dies kann Vorteile für Mütter und Väter bringen, die Care-Arbeit gegenüber Kindern oder auch erwachsenen Angehörigen leisten.
Allerdings bringen der technologische Wandel und die neuen Arbeitsformen auch neue Probleme. Ein Beispiel: Im Homeoffice wird oft länger gearbeitet als am Präsenzarbeitsplatz. Diverse Studien zeigen, dass gerade Frauen mit Care-Verpflichtungen mehr Stress empfinden und häufiger sogenannten Work-Life-Konflikten ausgesetzt sind. Ein anderes Beispiel zum Thema Plattformökonomie: Wenn eine Dienstleistung (z.B. Reinigung, Fahrdienste etc.) via Knopfdruck bestellt werden kann, kann dies den Arbeits- und Leistungsdruck auf die Leistungserbringenden erhöhen, weil sie fürchten, dauernd abrufbar sein zu müssen; anstatt mehr Freiheit und Selbstbestimmung, resultieren dann leider mehr Stress und Abhängigkeit. Dies betrifft in einigen Dienstleistungsbereichen vor allem Frauen. Zudem ist diese Plattformarbeit sozialpolitisch schlecht abgesichert und es fehlen Interessensvertretungen. Die Apps der Plattformökonomie bieten zwar neue und flexible Möglichkeiten der Leistungserbringung, aber es gibt auch Aspekte der Entfremdung, Verlust sozialer Absicherung, die sonst mit Erwerbsarbeit einhergeht, und Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben. Das sind keine Errungenschaften, sondern eine Rückkehr in Arbeitsverhältnisse, wie sie bereits Karl Marx beschrieben hat!
Welche Handlungsfelder für Unternehmen hat die Tagung identifiziert?
Ich fasse zusammen:
- New Work ist mehr als Homeoffice. Aspekte der Sinnstiftung und Nachhaltigkeit erfordern einen Wandel auf mehreren Ebenen der Unternehmen (Organisation, Kultur, Führung, Infrastruktur). Die Digitalisierung ist in dem Sinne Enabler.
- Entscheidungsstrukturen müssen sich neuen Arbeitsformen und -erfordernissen anpassen und deshalb mehr Entscheidungskompetenzen an Arbeitnehmende übertragen werden darüber was, wann und wie sie arbeiten wollen.
- Die Digitalisierung schafft mehr Produktivität. Dies sollte Arbeitszeitreduktionen (z.B. eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden) ermöglichen, die bereits in anderen Ländern wie Frankreich, Deutschland und den Niederlanden bestehen und nicht zu Produktivitätsverlusten geführt haben.
- Stressfolgeerkrankungen aufgrund von Mehrarbeit und Entgrenzung von Arbeit und Freizeit sind eine Gefahr im Homeoffice oder in der Plattformökonomie. Arbeitgebende müssen mit geeigneten Massnahmen wie konkreten Regeln etwa zum Datenverkehr (Auszeiten für E-Mails) möglichen neuen Gefahren vorbeugen.
Arbeitswelt und Gender-Gleichstellung: Was sind aus Ihrer Perspektive in den nächsten Jahren wichtige Forschungsschwerpunkte?
Ich denke, wir werden hier in den nächsten Jahren noch viel zu tun haben. Die obengenannten Ergebnisse lassen viele Fragen noch offen, gerade wenn wir den Anspruch haben, dass alle in der Gesellschaft gleichberechtigt von neuen Arbeitsformen profitieren sollen. Mein Team und ich werden z.B. weiter daran forschen, wie New Work zum Nutzen von Arbeitgebenden, den Mitarbeitenden und ihren Familienangehörigen beitragen kann.
Inwiefern kann gerade das sogenannte Well-Being von Mitarbeitenden und ihren Angehörigen durch betriebliche Massnahmen erhöht werden?
Wir möchten konkrete, gute Praxisbeispiele zu diesem Thema nachzeichnen. Wichtig ist hierbei immer, im Auge zu behalten, dass es Berufsfelder gibt, in denen z.B. Remote Work nicht möglich ist. Künftig müssen gute Lösungen gefunden werden, wie mehr Flexibilität und Selbstbestimmung bei der Arbeit für sogenannte Essential Workers möglich wird.
An der Tagung waren nur ganz wenige Männer vertreten. Bewegt sich die Genderforschung in einer feministischen Bubble?
Wir haben im Bereich der Gender Studies tatsächlich mehr qualifizierte Forschende, die sich als weiblich identifizieren. Und so war es auch nicht erstaunlich, dass mehr weibliche Menschen Papers eingereicht haben, als wir vom Forschungskomitee Gender Studies der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie den Call für diese Tagung ausgeschrieben haben. Aber ich sehe auch viel Engagement von vor allem jungen Männern, z.B. habe ich in den letzten Jahren viele Master- und Bachelor-Arbeiten von jungen Männern im Bereich Männlichkeit, Vaterschaft, aber auch anderer Genderthemen betreut. Zudem freut es mich, dass ich in den letzten Jahren wieder ein deutlich höheres Interesse von Unternehmen zu diesen Fragen spüre. Es scheint auch der Wirtschaft klar, dass wir die Themen von Diversity, Equity und Inclusion gerade in Bezug auf New Work angehen müssen, um qualifizierte Fachkräfte, aber auch Arbeitnehmende generell, gewinnen zu können. Hier müssen Menschen aller Geschlechter zusammenarbeiten.
Sie erläuterten am Anfang der Tagung, dass Sie Ihre Position als Professorin in einem Topsharing ausfüllen. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht und welche Konsequenzen hat dies für die wissenschaftliche Arbeit und die eigene Reputation?
Bisher hat das für mich fast nur Vorteile, wir können gemeinsam, mit verstärkten Kräften den Forschungsschwerpunkt weiter positionieren und ausbauen; wir können uns austauschen und haben auch einen gemeinsamen Bewerbungsprozess durchlaufen. Jedoch bringt die Anstellung im kleinen Pensum für jede von uns auch Nachteile mit sich, z.B. müssen wir uns künftig die Teamsitzungen aufteilen, um nicht doppelte Zeitressourcen zu verwenden. Da jede von uns neben den Care-Verpflichtungen und dem Privatleben noch weitere Mandate hat, ist der Koordinationsaufwand sehr hoch. Hier ist äusserste Achtsamkeit gefordert, um die Prioritäten richtig zu setzen. Ich bin aber sicher, dass sich das Modell lohnt und die Vorteile für uns, aber vor allem auch für die Institution, überwiegen. Wir haben ja gerade erst damit gestartet, aber ich freue mich, diesen innovativen Weg weiterzugehen.