Remote Work – ein Weg zur Chancengleichheit?

Dienstag, 10. Oktober 2023 - Karen Heidl
Die Organisationssoziologin Lena Hipp präsentierte umfassende ­Forschungs­ergebnisse aus Deutschland zur Frage, wie neue Arbeits­formen neue Möglich­keiten für Gender-Gerechtigkeit bieten.

«New Work – New Problems?» So lautete der Titel einer internationalen Tagung, die die Kommission Gender Studies der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie und die Hochschule Luzern durchführten. Die Wirkungen von Remote Work erhielten in dieser Tagung besondere Aufmerksamkeit, was dem sehr viel breiteren Konzept von New Work, sofern sich dieses überhaupt sauber definieren lässt, nicht ganz gerecht wird. Lena Hipp (Universität Potsdam, Deutschland) führte zu Beginn ihrer Keynote ganz unterschiedliche historische Verständnisansätze für New Work auf: Heute gebe es zwar einen Hype, denn New Work scheine die Antwort auf viele Herausforderungen der zunehmenden Digitalisierung und des höheren Bedarfs an kreativer Wissensarbeit zu sein. Diese Instrumentalisierung war jedoch nicht immer der Gedanke, der mit New Work verbunden war. Der Philosoph und Schöpfer der New Work-Phrase, Frithjof H. Bergmann, verband mit dem Begriff eine Vorstellung von der Bedeutung einer Tätigkeit für die Menschen. Bereits Karl Marx identifizierte die entfremdete Arbeit als Problem und er forderte mehr arbeitsfreie Zeit, in der Menschen sinnstiftende Tätigkeiten verfolgen können. Ob New Work nach heutigem Verständnis nun in diesem Sinn die Antwort auf rigide Arbeitsstrukturen sei, sei noch offen, so Hipp.

Zur Person

Prof. Lena Hipp, Ph.D., lehrt und forscht im Fachbereich Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Potsdam (Deutschland). Nach Studien in Freiburg, Paris und Berlin promovierte sie zum Thema Organizational Behavior an der Cornell University (USA).

Trotz dieser noch eher allgemein gehaltenen einleitenden Ausführungen lag in der Keynote der Fokus auf New Work doch relativ eng auf dem Teilaspekt Remote Work. Lena Hipp thematisierte in ihrem Beitrag vor allem die Herausforderungen und Vorteile dieser Arbeitsweise für die Gender-Gleichstellung. Die weiterreichenden Fragen, ob und wie sich intrinsische Erfüllung, Sinn, flache Hierarchien und Arbeitsplatzautonomie sowie flexible Arbeitsmethoden und -zeiten auf Chancenungleichheiten zwischen den Geschlechtern auswirkten, konnte Lena Hipp nur für Teilaspekte beantworten.

Vor- und Nachteile von Remote Work stünden sich gegenüber, so Hipp. Die Erleichterungen aufgrund des Wegfalls des Arbeitswegs, der höheren Produktivität, der geringeren Ansteckungsgefahr für Krankheiten und der besseren Arbeitsautonomie stünden weniger Teaminteraktion und Kommunikationsdefizite gegenüber, was Kreativität und Veränderung bremse. Abgrenzungsprobleme erhöhten die Gefahr einer gestörten Work-Life-Balance mit den bekannten Folgen für die Gesundheit.

Von diesen Erfahrungen berichten viele Unternehmen seit der Pandemie. Um herauszufinden, welche Auswirkungen Homeoffice auf die Gender-Gerechtigkeit hat, stützt sich Hipp auf umfangreiche Originaldatenerhebungen aus Deutschland: Die repräsentative Zeit-Vermächtnis-Studie mit über 4000 befragten Personen und in zwei Wellen im Rahmen von IAB-Hopp und SOEP-IS. IAB-Hopp steht für hochfrequentes Online Personen Panel und wurde von der Bundesagentur für Arbeit/Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Zeitraum von Mai 2020 bis März 2021 in sieben Wellen durchgeführt, in denen Personen zu ihrer Situation in Zeiten der Corona-Pandemie-Lage befragt wurden. Die IAB-HOPP weist fast 3000 Personen aus, die zumindest teilweise im Homeoffice arbeiten. Die SOEP-IS ist ein Forschungsdatenpanel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Im Rahmen dieses Panels werden seit 1984 wiederholt ca. 14000 Privathaushalte und ca. 30000 Personen befragt. Aus dem Panel sind Antworten von 665 Erwerbstätigen in die Auswertung eingegangen.

Das Flexibilitätsstigma

Vor der Pandemie haben deutlich mehr Frauen gesagt ­(Abendroth et al. 2022), dass ihre Arbeitgebenden Remote-Arbeit nicht gerne sähen und generell nicht erlaubten. Frauen fürchteten zudem um ihre Karriere. Während der Pandemie hat die ­Situation ein Umdenken erzwungen. Nach der Pandemie ist feststellbar, dass sich das Vertrauen von Frauen und Arbeitgebenden in Homeoffice verbessert hat und sich die Umfrageergebnisse von Männern und Frauen angeglichen haben. Benachteiligungen bestimmter Gruppen bei flexiblen Arbeitsformen nennen die Forschenden Flexibilitätsstigma. Eine Auswertung der Open Source Community GitHub (GitHub, Hipp & Konrad 2022), in der sich IT-Fachleute engagieren, zeigt, dass die Produktivität der Arbeit während der coronabedingten Lockdowns bei Männern und Frauen gleichermassen anstieg – bei Frauen allerdings nur so lange, wie die Schulen geöffnet blieben.

Arbeitszeiten

Erwerbstätige, die zuhause arbeiten, machen häufiger Überstunden als Menschen in Präsenzarbeit. Es sei auch weniger wahrscheinlich, dass die Remote Worker für diese Mehrarbeit bezahlt werden, stellte Hipp aufgrund der Studienlage fest (SOEP-IS 2022). Es gebe diesbezüglich nur kleinere Geschlechterunterschiede. «Wie lassen sich diese Mehrarbeit und Abgrenzungsherausforderungen zwischen Arbeits- und Freizeit mit der Idealvorstellung einer neuen Arbeitswelt vereinbaren?», fragte die Referentin. Doch gebe es Vorteile, gerade im Hinblick auf pflegende Personen oder Menschen, die aus anderen Gründen eher ans Haus gebunden sind. Um diese Zweischneidigkeit der digitalen Präsenz näher zu untersuchen, führte die IAB-Hopp in der achten (2021 – während Lockdown in Deutschland) und neunten Welle (2022 – nach Lockdown) Interviews durch. Es wurden die folgenden negativen und positiven Begleiterscheinungen digitaler Heimarbeit untersucht:

  • Verfügbarkeit: beschreibt die vermeintliche Erwartung permanenter Verfügbarkeit.
  • Sichtbarkeit: Die reduzierte Sichtbarkeit am Arbeitsplatz führt zu geringerer Wahrnehmung von Person und Arbeitsleistung.
  • Faking: Erwerbstätige sind nicht recht bei der Sache und passiv.
  • Multitasking: Die Teilnehmenden erledigen während Web-Meetings andere Dinge.
  • Inklusion: Teilnahme an Meetings von Menschen, die sonst nicht teilhaben könnten.

In den Ergebnissen zeigt sich, dass diese Facetten digitaler Arbeit unabhängig von der Pandemiesituation weit verbreitet waren – und zwar bei Männern und Frauen gleichermassen. Es gab bei einzelnen Gruppen Abweichungen: So fühlen sich kinderlose Frauen eher der Gefahr der permanenten Verfügbarkeit ausgesetzt. Väter neigen eher zum Multitasking. Mütter geben an, von den Inklusionsvorteilen wie der Teilnahme an Meetings, die ihnen sonst nicht möglich gewesen wäre, zu profitieren.

Erwartungen an flexible Arbeitsformen

Die Frage, ob Männer und Frauen, Mütter und Väter oder jüngere Menschen unterschiedliche Erwartungen an flexible Arbeitsformen haben, wurde ebenfalls untersucht. Dazu wurden die Befragten mit folgendem Szenario konfrontiert: Sie sollten sich vorstellen, dass sie die Wahl zwischen zwei Jobangeboten hätten. Das erste bietet eine 10% über dem bisherigen Salär liegende Bezahlung. Andere Mitarbeitende des Unternehmens sagen über dieses Unternehmen, dass häufig Überstunden erwartet würden und Karriereentwicklung möglich wäre. Das zweite Jobangebot sieht eine Bezahlung 5% unter dem bisherigen Salär vor, bietet flexible Arbeitszeit ohne Überstunden und wenig Entwicklungsmöglichkeiten.

Ergebnis: Frauen (mit und ohne Kinder) würden eher als Männer (mit und ohne Kinder) einen Job vorziehen, der mehr Freizeit bietet. Die Unterschiede, so Hipp, seien jedoch nicht sehr gross und liegen unter zehn Prozentpunkten. Die junge Generation bevorzuge ohne Gender-Unterschiede die Jobvariante, die mehr Freizeit bietet.

Die Keynote von Lena Hipp wurde anlässlich der Tagung «New Work – New Problems?» am 7. September 2023 an der Hochschule Luzern HSLU gehalten.

Prof. Dr. Lucia M. Lanfranconi im Interview

Lucia Lanfranconi
ist Hauptinitiatorin und -organisatorin der Tagung «New Work – New Problems?» und seit September 2023 Professorin für Diversity, Equity und Inclusion am Institut New Work der Berner Fachhochschule (BFH).

Frau Prof. Lanfranconi, Sie waren Hauptinitiatorin der Tagung «New Work – New Problems?». Worum ging es in dieser Tagung?

Die zweitägige Konferenz mit fast 40 wissenschaftlichen Beiträgen aus aller Welt bot einen breiten Rahmen für Reflexion und Diskussion unterschiedlicher Perspektiven aus diversen Berufsfeldern und Ländern zum Thema New Work und Gender-Gleichstellung. So ging es beispielsweise um Aspekte der Plattformökonomie in Indien oder der Sexindustrie in der Schweiz. Unsere Leitfrage lautete: Wie kann die Zukunft der Arbeit so gestaltet werden, dass sie gender-gerecht, nachhaltig und fair für alle ist?

Welche Fragen stellen sich beim Thema Gender-Gerechtigkeit und New Work?

Mit New Work verbinden wir die Vorstellung von mehr Selbstbestimmung und Erfüllung, mehr Freiheit, mehr Freizeit und mehr Zeit für Care-Arbeit für alle. Aus dieser Perspektive ergeben sich klar Chancen der neuen Arbeitsformen, auch für mehr Fairness und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern: Mehr Geschlechtergerechtigkeit kann dann gelingen, wenn Unternehmen auch ihre Unternehmenskultur anpassen und etwa ihren Mitarbeitenden mehr Mitspracherecht bei den Fragen geben, was, wann und wie sie arbeiten wollen. Der digitale Wandel spielt dabei eine wichtige Rolle, denn er ermöglicht es, das Arbeitsleben mit dem Privatleben flexibler auszubalancieren. Dies kann Vorteile für Mütter und Väter bringen, die Care-Arbeit gegenüber Kindern oder auch erwachsenen Angehörigen leisten.

Allerdings bringen der technologische Wandel und die neuen Arbeitsformen auch neue Probleme. Ein Beispiel: Im Homeoffice wird oft länger gearbeitet als am Präsenzarbeitsplatz. Diverse Studien zeigen, dass gerade Frauen mit Care-Verpflichtungen mehr Stress empfinden und häufiger sogenannten Work-Life-Konflikten ausgesetzt sind. Ein anderes Beispiel zum Thema Plattformökonomie: Wenn eine Dienstleistung (z.B. Reinigung, Fahrdienste etc.) via Knopfdruck bestellt werden kann, kann dies den Arbeits- und Leistungsdruck auf die Leistungserbringenden erhöhen, weil sie fürchten, dauernd abrufbar sein zu müssen; anstatt mehr Freiheit und Selbstbestimmung, resultieren dann leider mehr Stress und Abhängigkeit. Dies betrifft in einigen Dienstleistungsbereichen vor allem Frauen. Zudem ist diese Plattformarbeit sozialpolitisch schlecht abgesichert und es fehlen Interessensvertretungen. Die Apps der Plattformökonomie bieten zwar neue und flexible Möglichkeiten der Leistungserbringung, aber es gibt auch Aspekte der Entfremdung, Verlust sozialer Absicherung, die sonst mit Erwerbsarbeit einhergeht, und Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben. Das sind keine Errungenschaften, sondern eine Rückkehr in Arbeitsverhältnisse, wie sie bereits Karl Marx beschrieben hat!

Welche Handlungsfelder für Unternehmen hat die Tagung identifiziert?

Ich fasse zusammen:

  • New Work ist mehr als Homeoffice. Aspekte der Sinnstiftung und Nachhaltigkeit erfordern einen Wandel auf mehreren Ebenen der Unternehmen (Organisation, Kultur, Führung, Infrastruktur). Die Digitalisierung ist in dem Sinne Enabler.
  • Entscheidungsstrukturen müssen sich neuen Arbeitsformen und -erfordernissen anpassen und deshalb mehr Entscheidungskompetenzen an Arbeitnehmende übertragen werden darüber was, wann und wie sie arbeiten wollen.
  • Die Digitalisierung schafft mehr Produktivität. Dies sollte Arbeitszeitreduktionen (z.B. eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden) ermöglichen, die bereits in anderen Ländern wie Frankreich, Deutschland und den Niederlanden bestehen und nicht zu Produktivitätsverlusten geführt haben.
  • Stressfolgeerkrankungen aufgrund von Mehrarbeit und Entgrenzung von Arbeit und Freizeit sind eine Gefahr im Homeoffice oder in der Plattformökonomie. Arbeitgebende müssen mit geeigneten Massnahmen wie konkreten Regeln etwa zum Datenverkehr (Auszeiten für E-Mails) möglichen neuen Gefahren vorbeugen.
Arbeitswelt und Gender-Gleichstellung: Was sind aus Ihrer Perspektive in den nächsten Jahren wichtige Forschungsschwerpunkte?

Ich denke, wir werden hier in den nächsten Jahren noch viel zu tun haben. Die obengenannten Ergebnisse lassen viele Fragen noch offen, gerade wenn wir den Anspruch haben, dass alle in der Gesellschaft gleichberechtigt von neuen Arbeitsformen profitieren sollen. Mein Team und ich werden z.B. weiter daran forschen, wie New Work zum Nutzen von Arbeitgebenden, den Mitarbeitenden und ihren Familienangehörigen beitragen kann.

Inwiefern kann gerade das sogenannte Well-Being von Mitarbeitenden und ihren Angehörigen durch betriebliche Massnahmen erhöht werden?

Wir möchten konkrete, gute Praxisbeispiele zu diesem Thema nachzeichnen. Wichtig ist hierbei immer, im Auge zu behalten, dass es Berufsfelder gibt, in denen z.B. Remote Work nicht möglich ist. Künftig müssen gute Lösungen gefunden werden, wie mehr Flexibilität und Selbstbestimmung bei der Arbeit für sogenannte Essential Workers möglich wird.

An der Tagung waren nur ganz wenige Männer vertreten. Bewegt sich die Genderforschung in einer feministischen Bubble?

Wir haben im Bereich der Gender Studies tatsächlich mehr qualifizierte Forschende, die sich als weiblich identifizieren. Und so war es auch nicht erstaunlich, dass mehr weibliche Menschen Papers eingereicht haben, als wir vom Forschungskomitee Gender Studies der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie den Call für diese Tagung ausgeschrieben haben. Aber ich sehe auch viel Engagement von vor allem jungen Männern, z.B. habe ich in den letzten Jahren viele Master- und Bachelor-Arbeiten von jungen Männern im Bereich Männlichkeit, Vaterschaft, aber auch anderer Genderthemen betreut. Zudem freut es mich, dass ich in den letzten Jahren wieder ein deutlich höheres Interesse von Unternehmen zu diesen Fragen spüre. Es scheint auch der Wirtschaft klar, dass wir die Themen von Diversity, Equity und Inclusion gerade in Bezug auf New Work angehen müssen, um qualifizierte Fachkräfte, aber auch Arbeitnehmende generell, gewinnen zu können. Hier müssen Menschen aller Geschlechter zusammenarbeiten.

Sie erläuterten am Anfang der Tagung, dass Sie Ihre Position als Professorin in einem Topsharing ausfüllen. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht und welche Konsequenzen hat dies für die wissenschaftliche Arbeit und die eigene Reputation?

Bisher hat das für mich fast nur Vorteile, wir können gemeinsam, mit verstärkten Kräften den Forschungsschwerpunkt weiter positionieren und ausbauen; wir können uns austauschen und haben auch einen gemeinsamen Bewerbungsprozess durchlaufen. Jedoch bringt die Anstellung im kleinen Pensum für jede von uns auch Nachteile mit sich, z.B. müssen wir uns künftig die Teamsitzungen aufteilen, um nicht doppelte Zeitressourcen zu verwenden. Da jede von uns neben den Care-Verpflichtungen und dem Privatleben noch weitere Mandate hat, ist der Koordinationsaufwand sehr hoch. Hier ist äusserste Achtsamkeit gefordert, um die Prioritäten richtig zu setzen. Ich bin aber sicher, dass sich das Modell lohnt und die Vorteile für uns, aber vor allem auch für die Institution, überwiegen. Wir haben ja gerade erst damit gestartet, aber ich freue mich, diesen innovativen Weg weiterzugehen.

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