Das jährliche Mitarbeitergespräch – ein Ritual aus vordigitalen Zeiten?

Donnerstag, 02. Dezember 2021 - Karen Heidl
Auch moderne Führung braucht noch das jährliche Mitarbeitergespräch, meint Matthias Mölleney – aber es sollte das entspannteste Gespräch des Jahres sein.
Wenn wir vom klassischen Mitarbeitergespräch reden, dann geht es häufig um folgendes Szenario: Es findet einmal im Jahr statt, es geht neben der Leistungsbewertung des Mitarbeitenden auch um Ziele und möglicherweise Boni. Daran wird seit Jahren viel Kritik geübt. Was steckt aus Ihrer Sicht dahinter?

Ich denke, dass es für diese Kritik zwei Hauptursachen gibt: Zum einen geht es bei solchen Mitarbeitergesprächen mitunter zu wie auf einem Bazar. Da wird über alles Mögliche verhandelt; so wird etwa eine Forderung nach mehr Salär mit einer Weiterbildung aus einem anderen Budgettopf abgegolten – oder ähnliche Vereinbarungen. Diese Vorgehensweise ist nicht sehr zielführend. Die andere Hauptursache sehe ich darin, dass Mitarbeitende häufig das Gefühl haben, dass ihre Vorgesetzten sie gar nicht wirklich beurteilen können, weil sie beispielsweise in anderen Projektteams tätig sind, in die ihre Vorgesetzten nicht direkt involviert sind, weshalb diese ihre Arbeit nur zum Teil wahrnehmen könnten. Diejenigen, die ihre Arbeit eigentlich beurteilen könnten, seien eben nicht ihre Vorgesetzten.

Dies sind also die Hauptkritikpunkte: Mangelnder Fokus im Mitarbeitergespräch und Zweifel daran, dass die Führungsperson ein umfassendes Feedback geben kann.

Sind solche Argumente nicht schon eine harte Kritik an den Vorgesetzten und an der Organisation? Sie offenbaren doch eine Entfremdung der Führungskräfte von ihren Mitarbeitenden.

Das Management by Objectives (MbO) kommt aus einer Zeit, als die Firmen noch hierarchisch organisiert waren und von Flexibilität und Agilität noch nicht gross die Rede war. In dieser Zeit hat das, was Peter Drucker an Ideen dazu entwickelt hat, gut gepasst. Aber die Welt hat sich seitdem verändert. Dies betrifft auch Organisationen, die sich nun schneller entwickeln und agiler werden.

Ich halte das jährliche, dokumentierte Mitarbeitergespräch noch immer für sinnvoll; schwierig wird es allerdings, wenn mit diesem Jahresgespräch der Austausch als erledigt betrachtet wird.

Ich sage immer: Das jährliche Mitarbeitergespräch sollte der langweiligste Austausch im ganzen Jahr sein. Dann läuft es richtig. Wenn eine der beteiligten Personen sich fragt, was in dem Gespräch wohl kommen könnte, dann haben die beiden nicht gut zusammengearbeitet, sonst wüssten beide, was auf sie zukommt. In einer gut geführten Unternehmung sollte das Gespräch gar nicht notwendig sein.

Sicher kann ein Jahresgespräch einen Dialog nicht ersetzen. Aber welche Funktion hat es dann noch?

Das Jahresgespräch hat eigentlich nur die Funktion der Dokumentation. Heute wechseln Vorgesetzte im Zuge von Reorganisationen, Fusionen oder Standortwechseln häufiger. Dann ist die Dokumentation der Zusammenarbeit für Führungskräfte und Mitarbeitende sehr nützlich. Vor allem wenn plötzlich Einschätzungen zur Arbeitsleistung von Mitarbeitenden ganz anders ausfallen als vor dem Wechsel.

Das Jahresgespräch sollte jedoch keinen Verurteilungscharakter haben – es geht ja um Wertschätzung, das heisst, es sollte eingeschätzt werden, welchen Wert die Arbeit der mitarbeitenden Person in diesem Jahr hatte. Das ist der Zweck. Lohnverhandlungen haben darin gar nichts verloren.

Was wäre Ihre optimale «Dramaturgie» zum Thema Feedback?

Ich empfehle, während des Jahres fünf bis sechs kürzere Gespräche, in denen es um Retrospektiven und nächste Prioritäten geht. Zu jedem dieser Feedback-Gespräche kann man ein generelles Thema wählen, beispielsweise Weiterbildung oder Kompetenzen. Mit der Ergänzung eines generellen Themas verhindert man auch, dass diese Gespräche zu flüchtig geführt werden. Wenn dann das Jahresgespräch stattfindet, ist die Arbeit eigentlich erledigt, und es geht nur noch um die Dokumentation.

Das klassische Mitarbeitergespräch hat also keineswegs ausgedient. Es muss aber eingebettet sein in einen kontinuierlichen Dialog, der jährlich dokumentiert wird, was dann der unvermeidliche administrative Teil des Führungshandelns ist.

Zur Person

Matthias Mölleney war Mitglied der Konzernleitung und Personalchef von Swissair, Centerpulse und Unaxis. Er ist Gastreferent an der Universität St. Gallen und weiteren nationalen und internationalen Hochschulen. Er betreibt die Beratungsfirma peopleXpert, die sich mit der Entwicklung und Einführung moderner Personalmanagementkonzepte beschäftigt, Unternehmen und Führungskräfte in Veränderungssituationen berät und begleitet. Seit Anfang 2010 leitet er das Center for Human Resources Management & Leadership an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich.

Was ist mit den Zielvereinbarungen – gehören diese auch in das Jahresgespräch?

Es kommt darauf an, in welchen Zyklen Ziele vereinbart werden. Es gibt noch einige altväterliche Unternehmen, die mit Jahreszielen arbeiten. Diese erweisen sich allerdings häufig als sinnlos. Wie oft sitzt man dann am Ende des Jahres zusammen und grübelt darüber, was man sich bei der Vereinbarung gedacht hat, weil sich das Jahr wieder einmal nicht an den Plan gehalten hat? Wenn man an diesen Zielvereinbarungen zudem die Performance misst oder gar einen Bonus mit diesen Jahreszielen verknüpft, kann es schon bizarr werden, und es wird über eine rückwirkende Korrektur der Ziele verhandelt. Das ist lächerlich und zeitaufwendig. Trotzdem findet es noch landauf, landab statt.

Ich bin eher ein Fan von «Rolling Forecasts» nach der Methode Beyond Budgeting (siehe Kasten Beyond Budgeting). Dabei schaut man sich immer die nächsten drei Monate an. Eine andere Zielsetzungsmethode ist auch schon sehr alt, wird aber aktuell sehr stark evaluiert: die Methode Objectives and Key Results (OKRs, siehe Kasten).

Objektives and Key Results (OKRs)

Mit der OKR-Methode werden qualitative Teamziele (Objectives) für kurze Zeiträume von drei bis vier Monaten anhand von definierten, messbaren Ergebniskennzahlen (Key Results) transparent festgelegt und gemanagt. Die OKRs werden ausgehend von den Unternehmenszielen kaskadiert auf die operativen Einheiten heruntergebrochen. Unter Mitwirkung der Teammitglieder werden schliesslich die Teamziele definiert. Der Zielerreichungsgrad wird in kurzer Taktung überprüft. Die Transparenz der Ziele soll mögliche Zielkonflikte frühzeitig sichtbar machen. Die Kommunikation über Unternehmensziele und der Teambeitrag wird mit dieser Methode intensiviert. Das Kennzahlensystem vermittelt ein Gesamtbild über die Zielkonformität der gesamten Unternehmung.

Bei OKRs geht man ja eher auf Teamziele…

...Teamziele zum einen, zum anderen müssen mindestens 50% der Objectives bottom-up definiert werden, nicht top-down. Auch mit dieser Methode plant man in kurzen Zyklen von drei, vielleicht vier Monaten. In diesen Trimestern oder Quartalen kann man ein bis zwei Mitarbeitergespräche integrieren – dann ist man Ende des Jahres bei ca. sechs Gesprächen. Das passt dann auch im eben beschriebenen Szenario eines kontinuierlichen Dialogs ganz gut.

Das ist nachvollziehbar – allerdings nur, wenn keine Überdokumentation stattfindet. Dies ist ja ein mögliches Problem, das alle Beteiligten quält.

Man muss den Dokumentationswahnsinn eingrenzen.

Was halten Sie von OKRs?

Das Konzept finde ich gut, nur die Umsetzung ist mitunter problematisch – wenn wir beispielsweise an die Überdokumentation, wie sie bei Google betrieben wird, denken. Man muss auf die Grundidee zurückkommen. Es ging damals, als die Methode entwickelt wurde, darum, die Mitarbeitenden stärker zu beteiligen und Bottom-up- mit Top-down-Zielen zu verknüpfen, und nicht zuletzt auch darum, messbare Zielerreichungsgrössen zu definieren.

Anders als bei MbO-Zielsetzungen, wo auch messbare Ziele gesetzt werden, sind OKRs auf die Massnahmen, die zu einem Ziel führen, ausgerichtet. Sind deren Messgrössen erreicht, ist das Ziel erreicht, sonst arbeitet man mit den falschen Messgrössen. Das bedeutet, dass während des gesamten Zielerreichungsprozesses Messgrössen kontrolliert werden. Damit passen OKRs besser in eine agile, kurzlebigere Welt.

Heute werden Organisationen immer kleiner. Früher wollte man wachsen, das gilt auch heute noch. Aber heute will man als System wachsen, das man in kleinere Subsysteme aufteilt. Denken wir an Spitex oder Zappo’s, wo mit selbständigen Einheiten gearbeitet wird. Solche kleineren Einheiten können mit OKRs viel flexibler geführt werden.

Vielleicht wäre in Zukunft ein Mittelweg zwischen Beyond Budgeting und OKRs eine Lösung.

Was gewinnt die Führungskraft aus Mitarbeitergesprächen in der eben beschriebenen Qualität mit kurzer Taktung und Leistungs-Reviews?

Je besser eine Führungskraft ihre Mitarbeitenden kennt, ihre Motive, Lebensumstände und ihr Sinnstreben, desto höher der Führungsmehrwert. Motivation und Identifikation sind starke Hebel in der Führung. Je besser eine Führungskraft die persönlichen Treiber von Mitarbeitenden mit den Anforderungen im Job in Einklang bringen kann, um so reibungsloser und erfolgversprechender ist die Zusammenarbeit. Oder man erkennt früher, dass die Zusammenarbeit so nicht funktionieren kann, falls es keinen Einklang geben kann, weil Anforderungen und Mitarbeiterbedürfnisse zu weit auseinanderliegen. Um die Motive kennenzulernen, müssen Gespräche in einer bestimmten Tiefe geführt werden – immer über Fussball zu sprechen, bringt einen nicht weiter.

Forecasting nach den Prinzipien des Beyond Budgeting

Beyond Budgeting ist eine Initiative, die seit Ende der 1990er Jahre alternative Steuerungsmethoden für die Budgetplanung und kontrolle evaluiert. Herkömmliche Jahresplanungen wurden in Zeiten anbrechender Digitalisierung und Disruptionen hinsichtlich der Anforderung an die Unternehmen, flexibel am Markt agieren zu können, zunehmend zu starr, so die Hauptkritik der Initianten. Seitdem haben sich rollierende Budgetsteuerungssysteme in verschiedenen Ausprägungen entwickelt, die im Wesentlichen ähnlichen Prinzipien folgen:

  • Rollierendes Forecasting: kontinuierliches Anpassen von Investitionsentscheidungen an aktuelle Marktverhältnisse während des gesamten Geschäftsjahrs.
  • Rollierender Strategieprozess: kontinuierlicher Strategieanpassungsprozess in Kombination mit Leistungskennzahlen.
  • Dezentrales Budgeting und Planung von Investitionen im Rahmen einer dezentralen Ergebnisverantwortung.
  • Teambasierte Incentivierung zur Förderung einer teamorientierten Arbeitsweise.

Darüber hinaus liegen dem Stichwort «Beyond» weitere Prinzipien zur Unternehmenskultur zugrunde, die Dezentralität, dialogorientierte Führung, autonome Profitcenter u.a. vorsehen.

Literaturtipp zum Thema

Matthias Mölleney, Sybille Sachs: Beyond Leadership

Das Buch bietet neben den theoretischen Hintergründen konkrete Anleitung in logisch aufeinander aufgebauten Schritten mit Beispielen für den Einsatz des Führungskonzepts in der Praxis. «Beyond Leadership» richtet sich an Führungskräfte aller Stufen und Branchen, an Fachleute für Organisations- und Personalentwicklung und Verantwortliche für die Gestaltung von Führungsarbeit in Vereinen und anderen Milizorganisationen.

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