Bundesgericht ordnet sorgfältigere Untersuchung von Diskriminierungsvorwürfen in einem Arbeitsrechtsstreit an

Montag, 16. Mai 2022
Eine Frau mit Behinderung hat nach ihrer Entlassung durch das Hospice général des Kantons Genf über Diskriminierung geklagt. Das Bundesgericht hiess ihre Beschwerde teilweise gut, da es der Ansicht war, dass ihre Vorwürfe nicht ausreichend untersucht worden seien. Das Kantonsgericht muss nun nochmals über die Bücher.

Die an Multipler Sklerose erkrankte Beschwerdeführerin verlor ihre Stelle beim Hospice général, einer öffentlich-rechtlichen Sozialhilfeeinrichtung des Kantons Genf, etwas mehr als ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter Ende Juni 2020. Sie hatte dort seit 2017 als Beraterin für berufliche Wiedereingliederung und später als Sozialarbeiterin gearbeitet.

Ihr Arbeitgeber hatte ihren befristeten Vertrag mehrmals verlängert. Die Auswirkungen ihrer Krankheit wurden durch die Schwangerschaft verstärkt, wie Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, am Donnerstag in einer Mitteilung festhält.

Obwohl ihre behandelnde Ärztin ihr eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit attestierte, weigerte sich das Hospice général, ihren Vertrag zu verlängern. Dies trotz seiner gängigen Praxis, Personal befristet anzustellen und es bei Zufriedenheit dauerhaft zu beschäftigen. Zudem waren mehrere Stellen offen, auf die sich die Beschwerdeführerin ordnungsgemäss beworben hatte.

Zuvor hatte sich der Vertrauensarzt des Arbeitgebers gegenüber der behandelnden Ärztin abfällig über die Beschwerdeführerin geäussert: «Madame fait désordre dans les locaux et choque» (sinngemäss: «Die Frau ist unordentlich und schockiert»). Die Beschwerdeführerin schloss aus alldem, dass sie vom Hospice général diskriminiert worden sei, obwohl ihre Arbeit zufriedenstellend gewesen sei. Sie war insbesondere der Ansicht, dass sie aufgrund ihrer Behinderung und ihrer Schwangerschaft von ihrem Arbeitsplatz ferngehalten worden sei.

 

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Keine blossen Vorurteile

Das Genfer Kantonsgericht stellte hingegen nicht fest, dass die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses auf blossen Vorurteilen im Zusammenhang mit diesen Elementen beruhte. Es lehnte es ab, die behandelnde Ärztin als Zeugin anzuhören, um den Sachverhalt zu ermitteln, insbesondere in Bezug auf die Aussagen des Vertrauensarztes. Es verlangte auch nicht, dass der Arbeitgeber Dokumente über die Praxis bei der Einstellung und Weiterbeschäftigung von Personal vorlegt.

In seinem Urteil vom 14. April hiess das Bundesgericht die Beschwerde insofern teilweise gut, als es sie an die Vorinstanz zurückwies. Es forderte das Kantonsgericht auf, den Fall erneut zu prüfen und neu zu entscheiden.

Gemäss den Richtern verletzte die Vorinstanz den Anspruch auf rechtliches Gehör, indem sie die von der Beschwerdeführerin angebotene Zeugenaussage und die Beweismittel ablehnte. Diese hätten möglicherweise belegen können, dass der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert habe.

Eine solche Diskriminierung ist laut dem Bundesgericht nicht mit der Uno-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) und der Bundesverfassung, allenfalls auch nicht mit dem Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann vereinbar.

Welche Folgen das Vorliegen einer Diskriminierung haben wird, sollte sie vom Kantonsgericht neu bejaht werden, lasse das Bundesgericht zwar ausdrücklich offen. Es habe dem kantonalen Gericht aber klar zu verstehen gegeben, dass sowohl die Uno-Konvention als auch die Verfassung ernst genommen werden müssten, stellt der Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen fest. (Urteil 8C_633/2021 vom 14. April 2022) (sda)

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