«Das ist eine gross­artige Erfahrung»

Donnerstag, 30. November 2023 - Gregor Gubser
In Bezug auf die berufliche Wiedereingliederung muss die IV auf das Engagement der Arbeitgebenden zählen können. Roxane Zappella, Direktorin der FER Neuchâtel, hat sich dafür engagiert und berichtet, dass alle Beteiligten davon profitiert haben.

Zur Person

Roxane Zappella ist Juristin, eidg. dipl. Sozialversicherungsfachfrau und eidg. dipl. Erwachsenenbildnerin, Direktorin der FER Neuchâtel und Mitglied AHV/IV-Kommission.

Die FER Neuchâtel

Die Fédération des Entreprises ­Romandes Neuchâtel (FER Neuchâtel) ist ein branchenübergreifender Arbeitgeberverband für Unternehmen und Selbständige im Kanton Neuenburg. Die FER bietet ihren Mitgliedern eine Vielzahl von Dienstleistungen an und vertritt die Interessen der Privatwirtschaft.

Die FER Neuchâtel hat Erfahrungen mit der beruflichen Wiedereingliederung gesammelt. Können Sie uns ein konkretes Beispiel geben?

Roxane Zappella: Ich kann Ihnen mehrere Beispiele geben. Im ersten Fall wurde ich von einem Unternehmen kontaktiert, das im Bereich berufliche Wiedereingliederung tätig ist (Job Coaching Pro Sàrl), ein Partner der IV-Stelle für Coaching und Arbeitsvermittlung. Sie haben mich gefragt, ob ich die Möglichkeit hätte, eine Juristin mit spezifischem Wissen im Bereich Sozialversicherungen in ein Praktikum aufzunehmen, die gesundheitliche Probleme hatte. Vor allem litt sie unter einem Mangel an Selbstvertrauen und an Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Ich sagte mir: Warum nicht! Wir hatten ein freies Büro und ich war bereit, das Experiment zu wagen und zu sehen, inwieweit sie mich bei bestimmten Aufgaben unterstützen kann. Ich wusste, dass wir ihr keine Juristen-Stelle anbieten konnten, aber ich dachte, dass ein Praktikum ihr das Vertrauen zurückgeben könnte, um in die Arbeitswelt zurückzukehren. Wir haben uns getroffen, und es lief gut. Sie blieb etwa sechs ­Monate bei uns. Ich schrieb ihr ein gutes Arbeitszeugnis, das ihre Fähigkeiten widerspiegelte. Das ermöglichte ihr, schnell eine neue Arbeit zu finden. Es war eine wunderbare, sehr bereichernde und positive Erfahrung für sie, für mich und für das gesamte Team.

Und die anderen Beispiele?

Nach dieser ersten positiven Erfahrung wurde ich von verschiedenen Partnern der IV-Stelle erneut kontaktiert, die uns weitere Kandidaten vorschlugen. Manchmal war es nicht möglich, weil mir die Ressourcen für die Betreuung eines Praktikanten fehlten. Als eine Kollegin schwanger wurde, kam mir die Idee, die IV-Stelle und ihre Partner, mit ­denen ich Kontakt hatte, zuerst zu kontaktieren. Wir suchten nach jemandem mit Kenntnissen im Bereich Sozialversicherungen, der bereit war, sich weiterzuentwickeln. Es wurde mir jemand aus dem medizinischen Bereich vorgeschlagen, der im Sozialversicherungsbereich arbeiten wollte und eine entsprechende Ausbildung absolvierte. Sie begann mit einigen Monaten Praktikum bei der Kollegin, die sie dann während ihres Mutterschaftsurlaubs ersetzte. Sie ist sehr kompetent und interessiert, mit einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit. Da dies eine grossartige Erfahrung war, haben wir uns entschlossen, sie nach dem Abschluss ihres Praktikums zu 100% einzustellen. Das ist wirklich eine Win-win-Situation.

Was war entscheidend für den Erfolg der Eingliederung?

Der entscheidende Faktor war der Wille und die Motivation der Praktikantinnen. Sie erkannten, dass dies eine Chance für sie war. Wir haben viel gegeben und sie auch. Wir haben auch eine andere Erfahrung mit einer jungen Person gemacht, die zwar die Fähigkeiten hatte, aber bisher noch nie gearbeitet hatte. Leider war sie noch nicht bereit, ins Arbeitsleben einzusteigen. Der entscheidende Unterschied war die Motivation.

Was waren die grössten Schwierigkeiten?

Ich würde nicht von Schwierigkeiten sprechen. Man muss sich aber bewusst sein, dass der Eingliederungsprozess manchmal Geduld und viel Fürsorge erfordert. Die Menschen können anfangs fragil sein. Es ist wichtig, auf ihr Tempo zu achten, während man sie ermutigt und erreichbare Ziele setzt. Man sollte nicht zu schnell vorgehen, da dies das Selbstvertrauen und die Motivation beeinträchtigen kann. Wenn die Person bereit ist, kann man (gemeinsam) entscheiden, das Tempo und die Erwartungen zu steigern. Ich erinnere mich an einen besonderen Moment, als eine der Praktikantinnen eines Tages zu mir kam und sagte: «Jetzt können wir loslegen!» Sie hatte den Schritt gemacht. Ich war sehr glücklich darüber und hatte ein breites Lächeln im Gesicht. Ab diesem Zeitpunkt habe ich ihr anspruchsvolle Aufgaben und Fristen gestellt. Sie hat die Herausforderung hervorragend gemeistert.

Mussten Sie überzeugt werden, mit der IV-Stelle zusammenzuarbeiten?

Ich musste nicht überzeugt werden, mit der IV-Stelle oder ihren Partnern zusammenzuarbeiten. Sie sagten mir, dass es ein Profil gab, das zu unserem Tätigkeitsbereich passte. Ich war überrascht, aber ich dachte, wenn wir die Möglichkeit haben, jemandem eine Chance zu geben, warum nicht! Letztlich war es eine ausgezeichnete Erfahrung mit den Partnern und der IV-Stelle. Wir hatten sehr engagierte Ansprechpartner, die sehr daran interessiert waren, uns bei der Eingliederung zu unterstützen.

Welchen Einfluss haben finanzielle Anreize?

Sie sind wichtig. Wenn ich die Personen, die anfangs nicht produktiv waren, hätte bezahlen müssen, hätte ich es nicht getan. Ich nehme mir die Zeit, diese Personen zu unterstützen und zu begleiten. Im Gegenzug erhalte ich etwas Arbeit und eine finanzielle Entschädigung. Ich hätte nicht das Budget gehabt, um beispielsweise einen Juristen mit einem Pensum von 80% einzustellen. Das wäre eine zu grosse Investition gewesen. Letztendlich ist es eine Win-win-Situation: Wir helfen und uns wird geholfen. Um ehrlich zu sein, ja, die finanzielle Unterstützung spielt eine Rolle. Wenn das Potenzial erkennbar ist und der Bedarf besteht, kann dies zu einer Anstellung führen. Der Wissenstransfer und das Engagement rechtfertigen auch eine finanzielle Entschädigung des Arbeitgebers durch die IV. Die finanzielle Realität der Arbeitgeber muss respektiert werden. Es sollte allen zugutekommen: den Betroffenen, der IV-Stelle, den Arbeitgebern und der Gesellschaft.

Wie haben die anderen Mitarbeiter reagiert?

Ich habe das Glück, ein Team zu haben, das völlig offen ist. Natürlich hat es sie nicht direkt in ihrer Arbeit betroffen, aber beim ersten Mal habe ich mit ihnen darüber gesprochen. Sie alle haben die gleiche Einstellung. Wenn wir helfen können, warum nicht? Ich spürte eine sehr positive Dynamik von allen Kollegen.

Würden Sie wieder jemanden einstellen oder integrieren, der ­gesundheitliche Probleme hat?

Ja, wenn das Profil passt, ich die zeitlichen Ressourcen und einen freien Arbeitsplatz habe, bin ich bereit, diesen Prozess zu wiederholen. Es ist eine grossartige Erfahrung, die ich auch anderen Arbeitgebenden wünsche.

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