Auswirkungen auf die Sozialversicherungen

Mittwoch, 28. Mai 2025 - Gregor Gubser
Chronische Krankheiten begleiten die Betroffenen oft ein Leben lang und ­verursachen hohe volkswirtschaftliche Kosten. Die Sozialversicherungen tragen einen grossen Teil dieser Last in Form von Behandlungen und Geldleistungen.

Jede und jeder fängt sich von Zeit zu Zeit eine Erkältung oder Grippe ein, mancher hat einmal Kopfschmerzen, einen verspannten Nacken oder einen Tennisarm. All das sind akute Beschwerden, die mit oder ohne medizinische Behandlung nach einigen Tagen oder wenigen Wochen abklingen oder heilen.

Anders sieht das bei chronischen Krankheiten aus. Sie begleiten die Betroffenen über einen längeren Zeitraum oder gar lebenslang, erfordern häufig während längerer Zeit medizinische Behandlungen und können die Arbeits- oder gar die Erwerbsfähigkeit einschränken. Die medizinische Behandlung wie auch der Arbeitsausfall verursachen Kosten: in der Krankenversicherung (KV), in der Krankentaggeldversicherung (KTG) und in der Invalidenversicherung (IV). Was chronische Krankheiten sind, wie verbreitet sie in der Bevölkerung sind und welche Kosten sie verursachen, umreisst dieser Artikel. In den folgenden Artikeln geht Penso der Frage nach, wie die So­zialversicherungen und die Arbeitgebenden verhindern können, dass chronische Krankheiten zum Verlust der Erwerbsfähigkeit führen.

Beispiele für chronische Krankheiten

Gemäss der Definition des Robert-Koch-Instituts (RKI) sind chronische Krankheiten «Krankheiten, die lange andauern, nicht vollständig geheilt werden können und deshalb oft eine wiederholte Behandlung erforderlich machen». Dazu gehören laut gesundheitswissen.de z.B.:

  • Lungenkrankheiten (Asthma bronchiale und COPD, chronische Bronchitis),
  • Erkrankungen des Verdauungssystems (Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, chronische Gastritis),
  • neurologische Erkrankungen (Demenz, Epilepsie, Parkinson, Alzheimer oder Multiple Sklerose),
  • psychische Erkrankungen (Depressionen, Schizophrenie, Angststörungen),
  • Erkrankungen des Skeletts (Rheuma),
  • Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus und Gicht),
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck oder Arteriosklerose),
  • Frauenleiden (Endometriose),
  • Suchterkrankungen (Alkoholismus) sowie
  • alle Arten von Krebserkrankungen.

Millionen Menschen in der Schweiz betroffen

All diesen Krankheiten ist gemein, dass sie nicht übertragbar sind. Sie werden also nicht durch Viren oder Bakterien übertragen, sondern haben andere Ursachen. Dazu zählen laut Bundesamt für Gesundheit (BAG):

  • Der Lebensstil (unausgewogene Ernährung, mangelnde Bewegung, Rauchen und übermässiger Alkoholkonsum).
  • Physiologische Faktoren wie Gewicht, Blutdruck, Blutfettwerte und der Cholesterin­spiegel.
  • Gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren: Personen mit einem niedrigeren Bildungsgrad oder einem tieferen Einkommen erkranken häufiger.
  • Psychosoziale Faktoren wie chronischer Stress und Schlafprobleme.

Das BAG fasst sie unter der Bezeichnung «nichtübertragbare Krankheiten (NCD)» zusammen. Laut BAG waren in der Schweiz im Jahr 2017 2.3 Millionen Menschen ab 15 Jahren von mindestens einer der fünf häufigsten NCD (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs, Atemwegs- und Erkrankungen des Bewegungsapparats) betroffen. Das entspricht nahezu einem Drittel der Bevölkerung. In dieser Zahl sind psychische Erkrankungen wie Depressionen nicht eingerechnet. Nähme man diese hinzu, fiele die Anzahl an betroffenen Personen noch höher aus, schreibt das BAG auf seiner Website.

Nicht erfasst werden so allerdings übertragbare Krankheiten, die ebenfalls chronische Ausprägungen entwickeln, wie Borreliose (durch Bakterien übertragen) oder das HI-Virus, das heute mit entsprechender Behandlung kein ­Todesurteil mehr ist, aber einer lebenslangen medikamentösen Therapie bedarf. Hinzu kommen das Chronische Fatigue-Syndrom oder Long Covid, die infolge übertragbarer Erkrankungen auftreten können. Diesen Krankheitsbildern geht Penso in der Ausgabe 4/25 nach.

Volkswirtschaftliche Kosten von 74.2 Mrd. Franken

Wie das BAG auf Anfrage mitteilt, werden 80% der schweizerischen Gesundheitskosten durch nichtübertragbare Krankheiten verursacht. 2011 lagen die direkten volkswirtschaft­lichen Kosten von NCD bei knapp 52 Mrd. Franken. Allein die Behandlung der fünf häufigsten NCD verursacht in der Schweiz pro Jahr mit 25.6 Mrd. Franken (Stand 2011) rund 40% der direkten Gesundheitskosten. Nimmt man psychische Erkrankungen und Demenz hinzu, steigt dieser Wert auf rund 51% aller Gesundheits­kosten. Rechnet man die indirekten Kosten, z.B. in Form von Produktivitätsverlusten, dazu, so ­belaufen sich die volkswirtschaftlichen Kosten von NCD auf 74.2 Mrd. Franken.

Hohe Kosten in der Krankenversicherung

Die obligatorische Krankenversicherung (OKP) hat im Jahr 2023 Leistungen im Umfang von total 39.9 Mrd. Franken bezahlt. Legt man die Information des BAG zugrunde, dass 80% der Gesundheitskosten durch NDC verursacht werden, werden allein aus der Grundversicherung 31.9 Mrd. Franken für die Behandlung von chronischen Krankheiten aufgewendet.

Neben der Deckung der Behandlungskosten in der obligatorischen Krankenversicherung oder auch mittels Zusatzversicherungen (halbprivat oder privat, Behandlungen ausserhalb der KLV) bieten Krankenversicherer auch Taggeldversicherungen an (siehe Box). Der grösste Teil der Taggeldversicherungen wird durch die Arbeitgebenden in Form von Kollektivversicherungen abgeschlossen. Im Jahr 2022 wurden Krankentaggelder im Umfang von 4.4 Mrd. Franken ausgerichtet. Auch hier ist davon auszugehen, dass der grösste Teil im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten steht – laut Schweizerischem Versicherungsverband (SVV) in erster Linie mit psychischen Erkrankungen.

Die IV wendet jährlich über 5 Milliarden Franken für Renten auf

Eine IV-Rente wird erst ausgerichtet, wenn die versicherte Person «ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern» kann (Art. 28 Abs. 1 Bst. a IVG). Zu den Einglie­derungsmassnahmen zählen gemäss Art. 8 Abs. 3 IVG: medizinische Massnahmen, Beratung und Begleitung, Integrationsmassnahmen, Massnahmen beruflicher Art sowie Hilfsmittel. Eine grundlegende Voraussetzung für eine IV-Rente ist also, dass sich der Gesundheitszustand durch medizinische Massnahmen nicht mehr verbessern lässt. Somit sind also alle Bezügerinnen und Bezüger von IV-Renten von einer chronischen Erkrankung – oder einer irreparablen Unfallverletzung – betroffen.

Im Jahr 2023 haben 223700 Personen in der Schweiz eine IV-Rente im Umfang von total 5.6 Mrd. Franken bezogen (IV-Statistik 2023). Drei Viertel der ­Rentenbezüger hatten einen Rentenanteil von 100%. Mit 53% ist der Anteil von Personen mit psychischen Erkrankungen am höchsten, es folgen ­Geburtsgebrechen (12%), andere Krankheiten (11%), ­Erkrankungen der Knochen / der Bewegungsorgane (10%) und des Nervensystems (9%). Unfälle waren lediglich zu 6% Ursache ­einer Invalidität (siehe Grafik). Wie der Grafik darunter zu entnehmen ist, hat sich die Anzahl der Renten aufgrund von psychischen Erkrankungen seit 1995 mehr als verdoppelt, während sich die Zahl von Erkrankungen an Knochen und Bewegungsorganen seit dem Maximum im Jahr 2005 halbiert hat und sogar unter dem Niveau von 1995 liegt. Relativ stabil blieben die Zahlen von Erkrankungen des Nervensystems sowie «andere Krankheit», und dies trotz wachsender Bevölkerung.

Rollen der verschiedenen Versicherungen

Die Krankenversicherung kommt für die medizinischen Behandlungen auf, die gemäss der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) im Rahmen der OKP gedeckt sind. Darüber hinaus kommen die Kantone wie auch die Betroffenen selbst (Franchise, Selbstbehalt) für die Behandlungen auf.

Die Krankentaggeldversicherung (KTG) deckt den Lohnausfall – in der Regel 80 bis 90% des versicherten Lohns – für eine maximale Dauer von 720 bis 730 Tagen ab einer vertraglich vereinbarten Wartezeit.
In der Regel schliessen Arbeitgebende eine KTG-Versicherung ab, um damit ihre Lohnfortzahlungspflicht zu ersetzen.

Die Invalidenversicherung (IV) unterstützt die Betroffenen mit medizinischen und Eingliederungs-Massnahmen beim Erhalt des bestehenden Arbeitsplatzes oder bei der Wiedereingliederung in einen den krankheitsbedingten Einschränkungen angepassten Arbeitsplatz. Besteht trotz aller Eingliederungsbemühungen eine Erwerbsunfähigkeit mit ­einem Invaliditätsgrad von 40% und mehr, wird eine (Teil-)Invalidenrente ausgerichtet.

Video-Tipp

Psychische Gesundheit: Was ist normal, was ist krank?

Die Absenzen, Krankentaggelder und IV-Renten aufgrund psychischer Erkrankungen nehmen zu. Die Frage, warum das so ist und was dagegen unternommen werden kann, treibt Wissenschaft und Sozialversicherungen um. Eine mögliche Erklärung: Die Medizin ist immer besser in der Lage, «Störungen» eine Diagnose zuzuordnen, wodurch sie zu Krankheiten werden, die Anspruch auf Behandlungen und allenfalls gar auf eine Rente begründen. Müssen wir unseren Blick neu schärfen für die Frage, was normal und was krank ist?
Dr. med. Esther Pauchard spricht in einem Interview auf Youtube unter dem Titel «Die Eigenverantwortung für die mentale Gesundheit» über ihre Arbeit als Psychiaterin, motiviert zur Selbstwirksamkeit und prangert an, dass sich viele Menschen eine psychiatrische Diagnose wünschen, um «jemand zu sein». In gut 45 Minuten gibt Pauchard Anregungen für jeden Einzelnen, sein Verhalten zu reflektieren, ebenso wie sie anregt, das System zu hinterfragen.

Langfristige Arbeitsunfähigkeit verhindern

Angesichts der hohen Kosten für Krankentaggelder und IV-Renten sowie der Opportunitätskosten der Unternehmen – Kompensation der Ausfälle, Rekrutierung und Einarbeitung neuer Mitarbeitender – ist es im Interesse aller Beteiligten, die Betroffenen von chronischen Krankheiten bestmöglich zu begleiten und sie im Erwerbsprozess zu halten oder wiedereinzugliedern.
Zu diesem Zweck engagieren Taggeldversicherer und Unternehmen Case-Manager, und die IV ­organisiert und finanziert Eingliederungsmassnahmen (siehe dazu Interviews ab Seite 58). ­Allein die IV investierte 2 Mrd. Franken in Eingliederungsmassnahmen für 213000 Versicherte. Im Jahr 2023 wurden bei 41836 Personen berufliche Eingliederungsprozesse abgeschlossen. 62% dieser Personen sind laut IV-Stellen-Konferenz (wieder) arbeits- und erwerbsfähig.

Nicht alle chronischen Krankheiten führen zu Arbeitsunfähigkeit

Zwar leiden viele Menschen an einer oder mehreren chronischen Krankheiten, längst nicht alle werden dadurch aber in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Diabetiker z.B. können durch gewissenhafte Kontrolle des Blutzuckerspiegels, angepasste ­Ernährung und Verabreichung von Insulin ein annähernd unbeschwertes Leben führen. Auch nicht jedes Herzleiden verunmöglicht jegliche ­Erwerbstätigkeit, wenn auch körperliche Höchstleistungen nicht möglich sind. Und auch psychisch Kranke können mit entsprechender The­rapie und einem angepassten Umfeld häufig (wieder) arbeiten.

Leid lindern

Chronische Krankheiten verursachen erheb­liche Kosten im Gesundheitswesen, in den Sozialversicherungen und für die Volkswirtschaft insgesamt. Dank den Leistungen der Sozialversicherungen führen die Krankheiten die Betroffenen nicht in den finanziellen und sozialen Ruin. Dank medizinischen Behandlungen sowie dem Engagement der Versicherungsträger wie auch der Unternehmen bei der Eingliederung können Kosten reduziert und Leid gelindert werden.

Weitere Informationen

Lesen Sie auch die Dossiers zu den erwähnten Sozialversicherungen:

Krankenversicherung für Mitarbeitende

Krankentaggeldversicherung

IV-Eingliederung

Take Aways

  • Chronische Krankheiten betreffen Millionen Menschen in der Schweiz und sind für 80% der Gesundheitskosten verantwortlich.
  • Die jährlichen direkten und indirekten Kosten belaufen sich auf 74.2 Mrd. Franken, was erhebliche finanzielle Belastungen für Sozialversicherungen und Unternehmen bedeutet.
  • Die Krankenversicherung finanziert die medizinische Behandlung, während Krankentaggeld- und Invaliden­versicherungen Eingliederungsmassnahmen, Taggelder und Renten übernehmen.
  • Eine frühzeitige Unterstützung durch Arbeitgebende und Versicherungen kann helfen, Menschen mit chronischen Krankheiten im Arbeitsprozess zu halten.
  • Nicht jede chronische Krankheit führt zu Berufsunfähigkeit. Mit der richtigen Therapie und Anpassungen am Arbeitsplatz können viele Betroffene weiterhin arbeiten.

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