
Dossier: Chronische Krankheiten
Dauert eine Krankheit länger als ein paar Tage, stellen sich Fragen zu Lohnfortzahlung und Eingliederung.
Bei Fatigue handelt es sich um einen Zustand tiefer, anhaltender Erschöpfung, der durch Schlaf oder Ruhe kaum zu lindern ist. Anders als bei akuter Erschöpfung bei sonst gesunden Menschen bleibt die Müdigkeit bestehen, auch wenn ihr keine körperliche Anstrengung vorausging.
Fatigue tritt häufig im Rahmen chronischer Erkrankungen auf, doch auch bei Infektionskrankheiten wie bei einer Grippe oder Covid-19 kann sie zu einem beherrschenden Symptom werden.
Fatigue beschreibt kein einheitliches Krankheitsbild. Es handelt sich um ein Begleitsymptom, das bei vielen unterschiedlichen Diagnosen auftritt. Besonders häufig sind neurologische, onkologische und entzündliche Erkrankungen verbunden mit einer anhaltenden Form der Erschöpfung. Bei Multipler Sklerose (MS) etwa leiden laut internationalen Studien rund neun von zehn Betroffenen an Fatigue, wobei nicht nur körperliche Schwäche, sondern auch kognitive Beeinträchtigungen dominieren. In der Schweiz leben nach Angaben des Schweizer MS-Registers derzeit etwa 18000 Personen mit MS. Bei rheumatoider Arthritis oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn ist Fatigue oft Ausdruck eines überreizten Immunsystems. Laut Rheumaliga leiden in der Schweiz rund 85000 Personen an rheumatoider Arthritis, davon rund 60000 an krankheitsbedingter Fatigue. Auch entzündliche Darmerkrankungen sind nicht so selten: Rund 25 000 Menschen sind davon betroffen (Crohn Colitis Schweiz). Krebspatientinnen und -patienten (durchschnittlich ca. 46 700 Neuerkrankungen pro Jahr) berichten häufig von einem quälenden Müdigkeitssyndrom, das selbst Monate nach einer überstandenen Therapie anhält. Bereits im Frühstadium geben viele der 3000, die jährlich an Parkinson erkranken, an (insgesamt ca. 15000), die Erschöpfung als eines der gravierendsten Symptome zu erleben. Jährlich erleiden etwa 22000 Menschen in der Schweiz einen Schlaganfall, so die Schweizerische Herzstiftung. Die Überlebensrate ein Jahr nach einem Schlaganfall liegt zwischen 75 und 83%, fünf Jahre nach einem Schlaganfall bei etwa 55%. Und selbst nach scheinbar vollständiger körperlicher Genesung leiden 50 bis 77% der Überlebenden eines Schlaganfalls an Post-Stroke-Fatigue.
Eine besondere Form stellt das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS oder ME / CFS für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom) dar. Es tritt oft nach viralen Infekten auf, z.B. nach grippalen Infekten, Pfeifferschem Drüsenfieber oder Covid-19. Die Schätzungen für die Schweiz liegen bei 5000 bis 15000 Fälle (gem. Altea-Netzwerk). Die Krankheit ist durch extreme Erschöpfung, Belastungsintoleranz, Konzentrationsstörungen, Kreislaufprobleme und neurologische Beschwerden gekennzeichnet. Bereits alltägliche Aktivitäten wie Zähneputzen oder ein kurzes Gespräch können zu Rückfällen bzw. Verschlimmerung der Fatigue führen (Crashs). Betroffene vergleichen in einer SRF-Dokumentation von 2024 (bit.ly/4l3Y6vO) ihren Zustand mit «lebendig begraben sein» oder einem «gläsernen Käfig». Viele sind arbeitsunfähig, teilweise bettlägerig und auf Hilfe durch Angehörige angewiesen. Soziale Isolation, psychische Belastung und der Verlust von Partnerschaft, Beruf und Selbstständigkeit prägen das Leben besonders schwer betroffener Erkrankter. Einige erleben existenzielle Not, weil medizinische Unterstützung und finanzielle Absicherung durch das Sozialversicherungsnetz fehlen.
Wer diese Zahlen durchrechnet, wird feststellen, dass Fatigue kein seltenes Phänomen ist. Dabei ist diese Auflistung möglicher Ursachen für diese Erkrankung noch nicht einmal vollständig. Hinzu kommt eine Dunkelziffer nicht diagnostizierter Fatigue-Betroffener.
Seit der Covid-Pandemie wird chronische Fatigue in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen. Nach Angaben des Bundesamts für Sozialversicherungen haben sich bis Ende 2023 rund 2900 Personen wegen Long Covid bei der IV angemeldet: Rund 12% erhielten eine Rente. Im Vergleich dazu mündeten nur 9% der nicht mit Long Covid begründeten Anträge in einer Rente.
Ein Teil dieser Betroffenen entwickelt eine besonders belastende Form von Fatigue, die mit Post-exertioneller Malaise (PEM = Belastungsintoleranz) einhergeht. Diese Form ist besonders schwer zu behandeln, da herkömmliche Rehabilitationsansätze – wie zu starke Aktivierung oder körperliches Training – kontraproduktiv wirken können, wie Dr. Ingmar Schenk im Interview ausführt (siehe Seite 20).
Der Ergotherapeut Heiko Lorenzen betont in seinem Buch «Fatigue Management: Umgang mit chronischer Müdigkeit und Erschöpfung», dass Fatigue auf mehreren Ebenen verstanden werden müsse. Körperliche, emotionale, mentale und soziale Faktoren griffen ineinander. Eine isolierte Behandlung auf rein organischer oder psychischer Ebene bleibe deshalb oft wirkungslos. Entscheidend sei, die individuelle Situation und die Belastbarkeit jedes Einzelnen ernst zu nehmen und daraus konkrete Massnahmen abzuleiten, die nicht überfordern, aber schrittweise neue Stabilität ermöglichen.
Je nach Grunderkrankung unterscheiden sich die therapeutischen Ansätze. Bei Multipler Sklerose oder entzündlichen Erkrankungen steht die medikamentöse Kontrolle der Entzündung im Vordergrund, ergänzt durch Ergotherapie, Schlafberatung und Energie-Management. Tumorassoziierte Fatigue wird meist im Rahmen der onkologischen Nachsorge thematisiert, wobei hier die Förderung der körperlichen Aktivität als besonders wirksam gilt, sofern keine anderen Belastungen dagegensprechen. Bei Long Covid und ME/CFS hingegen ist körperliche Aktivierung mit grösster Vorsicht zu behandeln. Hier steht das sogenannte Pacing im Zentrum, also eine strikte Orientierung an der aktuell vorhandenen Energie und eine vorausschauende Tagesplanung mit klaren Belastungsgrenzen. Begleitet wird dies idealerweise durch psychoedukative Angebote, Schmerz- oder Atemtherapie sowie spezifische medikamentöse Behandlungen, sofern diese vertragen werden.
Heiko Lorenzen adaptierte ein kanadisches Gruppenkonzept aus der MS-Therapie für die Einzeltherapie und entwickelte daraus ein diagnoseübergreifendes Self-Management-Programm. Er beschreibt das Fatigue-Management als strukturierte Vorgehensweise. Dabei geht es zunächst darum, ein vertieftes Verständnis für die eigene Erschöpfung zu entwickeln.
Heiko Lorenzen vermittelt in seinem Buch sieben Lernziele zur besseren Energieeinteilung und Alltagsbewältigung:
1. Das eigene Energieprofil erkennen
Ein Energietagebuch hilft, die persönlichen Leistungshochs und -tiefs im Tagesverlauf zu identifizieren. So lassen sich Tätigkeiten gezielt planen.
2. Aktivität und Erholung in Balance bringen
Pausen sollten frühzeitig und nicht erst bei Ermüdung eingelegt werden. So lassen sich Rückfälle (Crashs) vermeiden.
3. Offen kommunizieren
Fatigue ist unsichtbar. Wer offen mit seinem Umfeld spricht, kann Verständnis schaffen und Überforderung vorbeugen.
4. Hilfsmittel und Vereinfachungen nutzen
Technische oder organisatorische Anpassungen im Alltag helfen, Energie zu sparen, beispielsweise durch effizientere Organisation, Hilfsmittel oder neue Routinen.
5. Prioritäten setzen
Nicht alles muss sofort erledigt werden. Bewusst gesetzte Schwerpunkte entlasten und schaffen Raum für Freude und Erholung.
6. Vorausschauend planen
Wochen- und Tagespläne sollten Raum für Pausen und Unvorhergesehenes lassen. Empfohlen wird, maximal 60 Prozent des Tages aktiv zu verplanen.
7. Reflektieren und weiterentwickeln
Fortschritte bewusst festhalten und Routinen anpassen – so entsteht ein Lebensstil, der zur eigenen Energie passt. Das stärkt die Selbstwirksamkeit und das Vertrauen in den eigenen Weg.
Heiko Lorenzen: Fatigue Management – Umgang mit chronischer Müdigkeit und Erschöpfung 3. Auflage 2023, 72 Seiten, Verlag Schulz-Kirchner, ISBN 978-3-8248-1298-1. Als Taschenbuch und E-Book erhältlich.
Wer weiss, welche Faktoren die Erschöpfung verschärfen oder abmildern, kann frühzeitig gegensteuern. Die Steuerung der eigenen Aktivität steht dabei im Zentrum. Dies bedeutet, Tätigkeiten bewusst zu dosieren, Prioritäten zu setzen und Ruhephasen so zu gestalten, dass sie tatsächlich erholsam wirken. Auch die Qualität des Schlafs spielt eine entscheidende Rolle. Viele Betroffene schlafen lange, fühlen sich jedoch trotzdem ausgelaugt. Eine gezielte Verbesserung der Schlafhygiene, aber auch die Erprobung von Entspannungstechniken kann helfen, die Erholungsfähigkeit zu verbessern.
Ein weiteres Feld betrifft den Umgang mit belastenden Gedanken. Fatigue kann zur Selbstabwertung führen. Viele empfinden sich als nicht mehr leistungsfähig oder fühlen sich wertlos, weil sie Erwartungen im Beruf oder im sozialen Umfeld nicht mehr erfüllen können. Die Arbeit mit diesen Mustern, etwa durch kognitive Verhaltenstherapie oder Achtsamkeitstraining, kann helfen, Selbstfürsorge zu fördern und die Akzeptanz zu erhöhen.
Fatigue ist unsichtbar, sie wird oft nicht erkannt oder verkannt. Deshalb spielt Kommunikation eine wichtige Rolle: Wer gelernt hat, seine Situation zu erklären und konkrete Bedürfnisse zu formulieren, hat bessere Chancen auf Unterstützung im beruflichen oder privaten Kontext.
Im Zentrum des Managements steht nicht das Ziel, die Fatigue vollständig zu überwinden. Vielmehr geht es darum, mit den vorhandenen Ressourcen sinnvoll umzugehen, Rückschläge zu vermeiden und stabile Lebensbereiche zu erhalten. Lorenzen vergleicht Energie mit einem begrenzten Budget: Wer dieses gezielt einsetzt, kann trotz Einschränkungen wieder Handlungsspielräume zurückgewinnen. Kleine Fortschritte, wiederkehrende Tagesstrukturen und wertschätzende Begleitung bilden das Fundament auf dem Weg zurück zu Teilhabe und Lebensqualität.
Dauert eine Krankheit länger als ein paar Tage, stellen sich Fragen zu Lohnfortzahlung und Eingliederung.
Sich regelmässig bewegen, ausgewogen ernähren - diese Gesundheitstipps sind vielen Menschen bekannt. Doch ein nicht geringer Teil zweifelt daran, diese Tipps dauerhaft umsetzen und damit den eigenen Gesundheitszustand beeinflussen zu können. Besonders deutlich wird das bei Menschen mit chronischen Erkrankungen. Das zeigt eine Studie der Stiftung Gesundheitswissen in Deutschland.
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