Fokus: Faszination Gehirn
Wie es sich entwickelt, welche Faktoren seine Leistungsfähigkeit beeinflussen und wie kognitive Fähigkeiten trainiert werden können.
Jeder vergisst einmal etwas. «Häufen sich Situationen, in denen man ein Versäumnis feststellen muss oder weisen einen andere auf eine solche Häufung hin, dann wird es Zeit, darüber nachzudenken, welche möglichen Erklärungen es dafür geben kann», erklärt Marc Sollberger. Er ist interimistischer Abteilungsleiter der Memory Clinic in der Universitären Altersmedizin Felix Platter in Basel.
Laut Sollberger kann bspw. eine Störung der Aufmerksamkeit von den Betroffenen oder von der Umgebung fälschlicherweise als Gedächtnisstörung wahrgenommen werden. Zunächst gilt es sich zu fragen, ob es hierfür eine Erklärung geben könne, wie beispielsweise ein Schädelhirntrauma, einen Schlaganfall oder eine neu aufgetretene psychisch sehr belastende Lebenssituation?
PD Dr. med. Marc Sollberger ist Facharzt für Neurologie und als Abteilungsleiter a. i. in der Memory Clinic der Universitären Altersmedizin FELIX PLATTER tätig. Er hat an der Universität Bern studiert, an der Universität Basel promoviert und nach einem Post-Doc-Training am Memory and Aging Center der Universität von San Francisco an der Universität Basel habilitiert. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Entwicklung von Instrumenten zur Erfassung sozial-kognitiver Fähigkeiten bei Personen mit kognitiven Störungen und in der Früherkennung der Verhaltensvariante der frontotemporalen Demenz.
Sollberger empfiehlt, die Situationen zu beschreiben, in denen sich die Vergesslichkeit bemerkbar macht, denn diese geben ebenfalls Hinweise auf mögliche Ursachen. Vergesslichkeit habe nämlich mehrere Facetten: Sie kann etwa das sogenannte verbal-episodische Gedächtnis betreffen, was dazu führt, dass man Gesagtes vergisst. Menschen, die sich nicht an vor kurzem erhaltene neue Informationen oder Ereignisse mit häufiger Update-Frequenz erinnern können, leiden an solch einem episodischem Gedächtnisproblem; sie vergessen zum Beispiel häufig Wochentage, während der Monat oder das Jahr besser erinnert werden kann, weil er über einen längeren Zeitraum Geltung hat.
Grundsätzlich ist das verbal-episodische Gedächtnis stärker gefordert als das visuelle Gedächtnis, das für die Orientierung verantwortlich ist. Der alltägliche Bewegungsraum hat in der Regel eine Beständigkeit, während der sprachliche Austausch täglich neue Informationen produziert.
Ein Faktor für die Diagnose einer Gedächtnisstörung ist das Niveau, auf dem ein Mensch im Alltag kognitive Leistungen erbringt. Wenn jemand in seinem Beruf geistig stark gefordert ist, ist dies eine andere Ausgangssituation als der Alltag einer pensionierten Person, die im Allgemeinen geistig weniger beansprucht wird als in ihrem früheren beruflichen Alltag. Im zweiten Fall wird eine Gedächtnisstörung später wahrgenommen, weil die Pensionärin oder der Pensionär im Alltag viel stärker Routinen wiederholt, was das Gedächtnis natürlich weniger fordert. «Deshalb kommen berufstätige Patienten meist zu einem früheren Zeitpunkt zu uns als ältere Patienten.» Eine Herausforderung bei der Diagnose einer Gedächtnisstörung sind auch Menschen, die auf einem sehr hohen geistigen Niveau mit hoher Analyse-, Kommunikations- und Entscheidungsfrequenz arbeiten. Ein Gedächtnisproblem kann dann unter Umständen in einer Testung nicht festgestellt werden, da die Testung für die betroffene Person immer noch zu einfach ist.
Wenn man für die Ursachen der Vergesslichkeit keine offensichtliche Erklärung findet, dann sei ein Gespräch mit einer medizinischen Fachperson für weitere Abklärungen hilfreich, empfiehlt Sollberger. Es gibt eine grosse Bandbreite möglicher Ursachen für Vergesslichkeit oder andere Störungen der geistigen Leistungsfähigkeit wie der Aufmerksamkeit. Für den medizinischen Laien seien diese Ursachen häufig nicht offensichtlich, führt Sollberger weiter aus: «Ein Klassiker ist zum Beispiel das Schlafapnoe-Syndrom. Man ist tagsüber müde und unaufmerksam. Die Betroffenen und ihre Umgebung nehmen dies als Vergesslichkeit wahr. Wenn dann allerdings Tests durchgeführt werden, kann keine Gedächtnisstörung festgestellt werden, weil sich die Patienten während der Testung konzentrieren. Im Alltag jedoch haben sie Probleme, sich Dinge zu merken, da sie über den Zeitraum eines ganzen Tages in Zusammenhang mit der Müdigkeit Aufmerksamkeitsschwankungen haben.» Dieses Problem ist allerdings nicht Ausdruck einer Hirnkrankheit, sondern einer ungenügenden nächtlichen Erholung des Gehirns wegen wiederholter Sauerstoffmangelphasen als Folge der Atempausen im Schlaf. Dies sei ein typischer Fall, in dem keine Gedächtnisstörung vorliege, sondern eine erschöpfungsbedingte Aufmerksamkeitsstörung, die aber als Gedächtnisstörung von den Betroffenen interpretiert werden kann.
Bei den psychischen Ursachen einer Vergesslichkeit führt Depression die Rangliste an. Depressive Menschen wirken häufig abwesend, sind in ihren negativen Gedanken gefangen und können der Aussenwelt nur wenig Aufmerksamkeit geben. Auch in diesen Fällen zeigt die kognitive Testung typischerweise keine Gedächtnisstörung, wobei jedoch auch Personen mit Depression in der Testung Gedächtnisstörungen zeigen können. Das geistige Störungsbild ist bei der Depression sehr breit.
Sollberger führt im Gespräch auch vielfältige organische Ursachen für Vergesslichkeit auf: Für eine alternde Gesellschaft sind beispielsweise neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Krankheit eine Herausforderung. Weiter existiert eine Form der Epilepsie – die Temporallappenepilepsie – welche zu kurzen Blackouts führt, bei denen die Betroffenen für einen Moment abwesend und nicht ansprechbar sind. Dieses Krankheitsbild betrifft ähnliche Regionen wie die Alzheimer-Krankheit im Frühstadium und entsprechend weisen diese Personen oft auch Gedächtnisstörungen auf. Ein Schlaganfall oder ein Schädelhirntrauma kommen ebenfalls in Frage. Die virale Herpesenzephalitis ist eine schwere, aber seltene Erkrankung des Gehirns, auch Tumore können die Gedächtnisleistung stören. Ein starker Vitamin-B1-Mangel, wie er bei Alkoholikern in Zusammenhang mit schwerer Mangelernährung vorkommen kann, wirkt sich ebenfalls negativ auf die Hirnleistung aus, mit teils schwersten Gedächtnisstörungen.
«Je jünger die Patienten sind, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um psychische Ursachen handelt. Je älter die Betroffenen sind, desto wahrscheinlicher wird eine neurodegenerative Ursache, nicht selten kombiniert mit einer Durchblutungsstörung des Gehirns», fasst Sollberger typische Ursachen zusammen.
Diese grosse Bandbreite lässt die Diagnose der Ursachen einer vermeintlichen oder realen Gedächtnisstörung zur Detektivarbeit werden. Neben der Art des Auftretens und dem Verlauf der Beschwerden sei das Alter ein wichtiger Indikator.
Die Selbstwahrnehmungen von Patienten sind häufig sehr unterschiedlich. Manche haben Angst vor einer genetischen Prägung aufgrund einer neurodegenerativen Erkrankung in der Familie und beobachten sich selbst sehr stark. Sollberger kann allerdings nicht empfehlen, im Internet angebotene Selbsttests durchzuführen. Das Gespräch mit einer medizinischen Fachperson bringe hier eine bessere Klarheit und führe im Falle einer Störung auch zu einer Ursachenklärung.
Sollberger sieht kognitive Tests im Internet kritisch. Bei den frei verfügbaren kognitiven Onlinetests stelle sich die Frage: Was ist normal? Was sind die Normen, auf deren Basis die Auswertungen stattfinden? Kognitive Leistung sei individuell sehr unterschiedlich. Die Schulbildung respektive die berufliche Tätigkeit mit mehr oder weniger geistig gefordertem Hirn, aber auch das Alter und das Geschlecht, spielen beispielsweise eine wichtige Rolle. Solche Normen werden in neuropsychologischen Testungen berücksichtigt. Ein bekannter Kurztest, der von medizinischen Fachpersonen für ein Screening nicht selten durchgeführt wird, ist der MoCa-Test (Montreal-Cognitive-Assessment). Es gibt einen Score, der Alter, Ausbildungsjahre und Geschlecht in Relation zum Ergebnis setzt. Sollberger rät jedoch Laien davon ab, diesen Test selbst durchzuführen. Die Testung und die Interpretation der Ergebnisse gilt es in Zusammenhang mit der Erzählung der betroffenen Person zu setzen, und dies gehöre in die Verantwortlichkeit einer Fachperson.
Die Risikofaktoren der Demenz lassen sich zu ca. 40% beeinflussen. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Psychiaterin Gill Livingston u.a. (siehe Grafik).
Wenn es um digitale Medien und ihre Auswirkungen auf das Gehirn geht, sei Differenzierung angezeigt, so Sollberger. Es komme sehr darauf an, um welches Ausmass der Nutzung es gehe und welche Art von Online-Gaming und -Kommunikation vorliege. Das Gehirn könne von vielen intelligenten Spielen profitieren, weil es trainiert wird. Online-Spiele können potenziell auch zum sozialen Austausch beitragen respektive die Nichtteilnahme an sehr gängigen Online-Spielen könne insbesondere in bestimmten Teenagerkreisen potenziell zu sozialer Ausgrenzung führen. «Ein wichtiger Faktor ist hier das Alter. Bei einem Menschen, der sich noch in der Entwicklung (Kindes-, Jugendalter) befindet, könne exzessives Gaming u.a. die Entwicklung der Sozialkompetenz beeinträchtigen. Das ist ein Problem. In dieser Lebensphase entwickelt die Person durch persönliche soziale Interaktionen soziale Fähigkeiten wie Emotionserkennung, Empathie, Befolgung sozialer Regeln oder Impulskontrolle. Wenn sich das Sozialleben am Bildschirm abspielt, gehe man nicht raus in die Welt – die Welt ist dann der Bildschirm».
Das sei auch in der Arbeitswelt eine Herausforderung. Im Homeoffice finde die soziale Interaktion auch nicht mehr direkt statt. Dies sei nicht nur für alleinstehende Menschen schwierig. Der Informationsaustausch in der direkten Kommunikation sei durch die Nutzung digitaler Medien nicht zu kompensieren, mahnt Sollberger.
Wie es sich entwickelt, welche Faktoren seine Leistungsfähigkeit beeinflussen und wie kognitive Fähigkeiten trainiert werden können.
Welche Entwicklungen im Gehirn bei jungen und erwachsenen Menschen das Verhalten beeinflussen, erläutert die Neuropsychologin Regula Everts im Interview – und räumt dabei mit einigen Glaubenssätzen zum Gehirn auf.
… man muss es spielen.» Das sagt der Neurologe Jürg Kesselring – passionierter Cellist und Präsident der Schweizerischen Hirnliga.
Gregor Staub ist ein bekanntes Gesicht, wenn es um das Thema Gedächtnistraining geht. Fesselnd und elegant wie ein Taschenspieler zaubert er einen Trick nach dem anderen hervor – und plötzlich kann sich sein Publikum Zahlen, Namen oder Sätze in gänzlich fremden Sprachen merken.
Das Gehirn vollbringt unglaubliche Leistungen. Das Handout bietet eine Reihe unterhaltsamer Hirnübungen, um diese Leistung weiter zu steigern.
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