Neuroplastizität und Neuromythen

Donnerstag, 07. September 2023 - Karen Heidl
Welche Entwicklungen im Gehirn bei jungen und erwachsenen Menschen das Verhalten beeinflussen, erläutert die Neuropsychologin Regula Everts im Interview – und räumt dabei mit einigen Glaubenssätzen zum Gehirn auf.
Wie entwickelt sich das Gehirn in der Adoleszenz und anschliessend im Erwachsenenalter?

Das Gehirn verändert sich beim erwachsenen Menschen ungefähr ab dem 20. Lebensjahr nicht mehr so gravierend wie beim jugendlichen Menschen. Das heisst nicht, dass sich das Gehirn des Erwachsenen nicht weiterentwickelt. Früher wurde angenommen, dass es im höheren Erwachsenenalter kaum Veränderungen mehr gibt, heute weiss man, dass auch das ältere Gehirn neuroplastisch – also veränderbar – ist. Nur lernt es im Alter deutlich langsamer. Ein 60-jähriger Mensch braucht beispielsweise sehr viel länger als ein Kind, um eine Sprache zu lernen. Die biochemischen Abläufe beim Lernen dagegen sind fast die gleichen wie bei Kindern und jungen Erwachsenen. Das erwachsene Gehirn kann allerdings aufgrund von Erfahrungen und bereits vorhandenem Wissen Informationen und Emotionen schneller einordnen. Dies ist für jüngere Menschen aufwendiger.

Mit welchen Entwicklungen wird das Gehirn in der Adoleszenz konfrontiert?

In dieser Lebensphase gibt es ein Ungleichgewicht im Wachstum der verschiedenen Hirnareale. Das limbische System, das für emotionale Verarbeitung zuständig ist, wächst rasant und braucht deshalb auch viel Stimulation. Deshalb ist in der Adoleszenz das sogenannte Sensation Seeking häufig zu beobachten, also eine Lust auf Abenteuer oder sogar waghalsige Experimente.

 

Zur Person

Prof. Dr. phil. Regula Everts ist Neuropsychologin und Studienleiterin am Inselspital, Universitätsspital Bern. In ihrer Forschung befasst sie sich mit der Neuroplastizität, den Auswirkungen von verschiedenen Erkrankungen auf die Kognition und das Gehirn, und untersucht die ihr zugrundeliegenden Mechanismen. Im Rahmen einer dieser Studien entwickelte sie das MEMO-Training, ein Gedächtnistraining für Kinder (Hogrefe Verlag). Zudem ist sie Autorin unzähliger Fachartikel und Mitautorin des Buches «Neuropsychologie bei Kindern und Jugendlichen» (Hogrefe Verlag).

Wann ist die Adoleszenz ungefähr abgeschlossen?

Hier findet eine soziologische Veränderung statt. Vor 100 Jahren gab es die Adoleszenz noch kaum: Wenn das Kind aus der Schule kam, begann es zu arbeiten, hat meist früh geheiratet und eine Familie gegründet. Heute ist die Adoleszenz eine sehr prolongierte Phase. Biologisch gesehen beginnt die frühe Adoleszenz mit etwa 11 Jahren und endet mit der späten Adoleszenz, etwa mit 21 Jahren. Das war früher anders. Heute lassen sich die jungen Menschen mehr Zeit für Selbstfindung, Entwicklung von Selbständigkeit und Autonomie. Die Adoleszenz ist einerseits eine biologische Phase, andererseits auch eine soziologische Entwicklungsperiode, in der die Jugendlichen ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen und ihre Rolle zu definieren beginnen. Umweltfaktoren, Erziehung, schulischer Werdegang beeinflussen die Entwicklung eigener Werte und der Selbständigkeit.

Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Entwicklung des Gehirns?

Bei der Entwicklung gewisser Hirnareale sind Mädchen den Jungen ein wenig voraus. Ein deutlicher Geschlechtsunterschied bei der Entwicklung zum erwachsenen Menschen macht sich bei der Vulnerabilität für psychische Erkrankungen im jugendlichen Alter bemerkbar. Die Zeit zwischen 14 und 18 Jahren ist die heikelste Phase. Dies hat wiederum mit der rasanten Entwicklung des limbischen Systems in ­diesem Alter zu tun, die nicht immer problemlos verläuft. Die Anfälligkeit für depressive Erkrankungen, Zwangs­störungen und Angststörungen ist in diesem Alter vor allem bei Mädchen ausgeprägt. Bei den Jungen ist die Neigung zu risikoreichem Verhalten, also zum Sensation Seeking, ausgeprägter als bei Mädchen. Diese Suche nach potenziell gefährlichen Erfahrungen steckt allerdings nicht einfach genuin in jedem Jungen, sondern wird über das Umfeld beeinflusst. Wenn ein Junge mit Gleichaltrigen zusammen ist, zeigt er ein viel risikofreudigeres Verhalten, als wenn er allein ist. Ab ungefähr dem 20. Lebensjahr nimmt die Tendenz, sich von Gleichaltrigen im risikoreichen Verhalten negativ beeinflussen zu lassen, ab.

Das heisst, Jugendliche werden erst mit zwanzig vernünftig?

Es gibt neben dem limbischen System, das die Emotionen steuert, auch ein System, das für die Ratio zuständig ist – der präfrontale Kortex, also der vordere Teil des Gehirns. Dieser wächst einiges langsamer als das limbische System. Deshalb wirkt während der Adoleszenz die Vernunft den Emotionen nicht immer so stark entgegen. Mit 21 Jahren ist der präfrontale Kortex weitestgehend ausgereift. Das ist das eigentliche Ungleichgewicht bei der Entwicklung des adoleszenten Gehirns – die Areale für Vernunft und Gefühl entwickeln sich nicht parallel zueinander, weshalb es in der Jugend Entwicklungsphasen gibt, in denen die Emotionen gegenüber der Vernunft überhandnehmen.

Was bedeutet dies für das Lernen?

Die adoleszententypische Suche nach intensiven Erlebnissen kann das Lernen unterstützen, wenn es beispielsweise spielerische und soziale Anreize gibt und Gefühle beim Lernen Raum haben. Viele junge Menschen unternehmen zum Beispiel gerne Sprachferien, in denen sie gemeinsam Spass haben und gleichzeitig viel lernen, auf zwischenmenschlicher sowie auf sprachlicher Ebene. Die Emotionalität ist dem Lernen dabei sehr zuträglich.

Wir leben im Zeitalter der Selbstoptimierung – können wir unser Gehirn «boosten»?

Einige dahingehende Vorstellungen können wir als Neuromythen betrachten. Dabei handelt es sich häufig um medial inszenierte Aussagen, die bestimmte Zusammenhänge verkürzen oder verfälschen (siehe dazu Kasten «Neuromythen»). Es gibt allerdings Merktechniken, mit denen man sich Namen, Zahlen oder Orte besser einprägen kann. Wenn gewisse Merktechniken, sogenannte ­Mnemotechniken, im Alltag genutzt werden können, ist das fürs Lernen und Gedächtnis sehr zuträglich. Gewissermassen kann mit diesen Merktechniken das Gehirn somit «geboostet» werden.

Eine Merktechnik ist beispielsweise das Visualisieren, also das intensive visuelle Vorstellen eines Lerninhalts. Diese Methode kann nachhaltig zur Verbesserung der Merkfähigkeit im Alltag beitragen. Wer Merktechniken beherrscht, kann sich auf Partys blitzschnell Namen einprägen, z.B. mit der Assoziationstechnik, bei der eine Gemeinsamkeit zwischen zwei Merkmalen gesucht wird; «der Mann heisst Otto, O ist rundlich wie der Mann». Alle Trainings, die eine Funktion trainieren – sogenannte Funktionstrainings –, führen zur Verbesserung genau der trainierten Fähigkeit. Wir nennen diese punktuelle Wirksamkeit den «Fluch der Spezifität». Das bedeutet, dass eine Übertragung der trainierten Funktion nur auf ganz naheliegende Anwendungen stattfindet. Wenn man Sudoku gut beherrscht, können ähnliche Spiele ebenfalls schnell gelöst werden. Wenn man intensiv italienisch lernt, hilft dies auch beim Spanischlernen, das sind nahe Transfers. Einen fernen Transfer gibt es nicht: Ein Sudoku-Profi wird kaum besser Kreuzworträtsel lösen können.

Die Entwicklung des Gehirns in Kürze

Die Gehirnentwicklung beginnt in der dritten Woche der Schwangerschaft. Sie folgt genetisch vorgegebenen Phasen, wird aber durch Umwelteinflüsse beeinflusst. In den ersten Lebensjahren entstehen viele Synapsen (sogenanntes «Erblühen» oder «Blooming»), später wird das Gehirn spezialisiert und unnötige Verbindungen werden abgebaut (sogenanntes «Bestutzen» oder «Pruning»). Diese Spezialisierung grundlegender Hirnfunktionen ist mit ungefähr 20 Jahren im Wesentlichen abgeschlossen, was gut in der Sprachentwicklung zu beobachten ist. So wird vermutetet, dass Autismus oder neurodegenerative Erkrankungen unter anderem mit fehlerhaften Prozessen in der «Pruning»-Phase einhergehen könnten. Das Gehirn wächst schnell, so nimmt beispielsweise die Myelinschicht zu, die die Kommunikation zwischen den Hirnregionen optimiert. Im Erwachsenenhirn wird das Netzwerk der Synapsen konstant auf- und abgebaut (Plastizität), um sich den Umweltanforderungen anzupassen. Im mittleren Erwachsenenalter können Menschen besonders gut Entscheidungen fällen: Aufgrund ihrer Erfahrungen sind kognitive und emotionale Zentren eng vernetzt.

Die häufigsten Neuromythen

«Gehirntraining macht schlau.»

Sudoku gilt im Volksmund beispielsweise als klassisches Gehirntraining, macht aber nicht schlau. Wenn man viel Sudoku spielt, wird man darin richtig gut, aber diese Verbesserung bezieht sich dann nur auf das Sudoku. Auch bei vielen computerisierten Gedächtnis- oder Aufmerksamkeitstrainings werden sehr spezifische Übungen gemacht. Das heisst, man wird in der trainierten Aufgabe tatsächlich besser, was jedoch kaum Auswirkungen auf nicht-­trainierte Bereiche wie Kopfrechnen oder das Einprägen von Zeitungsartikeln hat.

Wenn man durch ein intensives Gedächtnistraining lernt, sich zwanzig Wörter einzuprägen, gelingt das nach einigen Wochen sehr gut. Das heisst aber nicht, dass nach diesem Training auch zwanzig Zahlen abgespeichert werden können. Die meisten Hirntrainings wirken also nur sehr spezifisch und zeigen keine Auswirkungen auf nicht-trainierte Hirnfunktionen.

«Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.»

Dieses Sprichwort spiegelt einen weiteren Neuromythos wider. Wie bereits anfangs ausgeführt, entwickelt sich das Gehirn auch im Alter weiter. Aber es geht langsamer, mehr Geduld und Ruhe ohne Ablenkungen wird benötigt.

«Brainfood macht mich schlau.»

Dass Sonnenblumenkerne intelligent machen sollen, ist eine Fehleinschätzung. Dieser Zusammenhang ist biologisch nicht zu begründen. Nährstoffe gelangen nicht direkt ins Gehirn, sondern die Blut-Hirn-Schranke regelt den Zugang. Auch Schokolade löst noch keine direkten Serotoninschübe aus. Umgekehrt ist es so, dass ungesunde Ernährung das Gehirn sehr wohl­beeinflusst, indem beispielsweise die Konzentrationsfähigkeit leidet.

«Das weibliche Gehirn funktioniert allgemein anders als das männliche.»

Für diese Behauptung gibt es kaum wissenschaftliche Fundierung. Zwar ist das weibliche Gehirn kleiner, aber Unterschiede in der allgemeinen Leistungsfähigkeit konnten, wenn, dann nur in sehr umschriebenen Bereichen nachgewiesen werden. Neurobiologisch gibt es kaum Begründungen für Unterschiede in Denkweisen und Verhalten. Deshalb wird postuliert, dass Unterschiede im Denken und Verhalten weniger auf Geschlechts- als auf Persönlichkeitsunterschiede zurückzuführen sind.

Man sagt ja, «use it or lose it» – was heisst das genau?

Wird durch eine Aktivität oder durch Lernen wiederholt ein ­Synapsenverbund aktiviert – also die Informationsweiter­leitung zwischen Nervenzellen gefördert – festigt sich diese Spur. Damit wird Wissen verankert. Wird Wissen nicht reaktiviert, geht es verloren. Wenn man zum Beispiel eine Sprache nicht spricht oder erlernte mathematische Formeln nicht nutzt, tritt dieses Wissen in den Hintergrund, dessen Abruf fällt zunehmend schwer. Motorische Prozesse sind im Gehirn tief verankert – so verlernt man beispielsweise das Fahrradfahren nicht.

Gibt es bereits verlässliche Studien zur Frage, wie digitale ­Medien die Lernfähigkeit von Menschen beeinflussen?

Es gibt viele digitale Medien, die die kognitive Entwicklung fördern und das Lernen unterstützen. Natürlich muss man auf die Dosierung achten. Gerade das Sensation Seeking und das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit in der Adoleszenz wird von digitalen Medien sehr stark befriedigt – durch Online-Games oder soziale Medien. Das ständige Feedback emotionaler Art in sozialen Medien und die enge Verbundenheit mit Gleichaltrigen ist genau das, was sich junge Menschen in dieser Lebensphase wünschen. Diese Bedürfnisse gab es schon, bevor es digitale Medien gab. Da die Vulnerabilität für ungesunde Verhaltensweisen in diesem Alter besonders ausgeprägt ist, bergen die digitalen Medien natürlich auch Risiken, ich denke hier an das Missbrauchs- und Suchtpotenzial. Aber die Angst vor digitalen Medien und ihren Einfluss auf das Gehirn wird medial eher übertrieben. Wissenschaftliche Untersuchungen, die Kausalitäten erlauben, also Ursache-Wirkungs-Aussagen zum Thema ermöglichen, gibt es derzeit noch kaum. Schon Platon orakelte, dass die Kommunikation über Schrift negative Folgen haben könne, dass das Schreiben dazu führe, dass die Menschen sich weniger merken und damit weniger wissen könnten. Als Frauen zunehmend Zugang zu Bildung erhielten, vermutete man, dass beispielsweise Belletristik ihnen schaden könne. Damals haben die Fortschritte in der Kommunikation schon Sorgen um die Gesundheit des Menschen und des Gehirns ausgelöst – genau wie heute. Das Gehirn ist sehr anpassungsfähig und wird neue Wege finden, mit Herausforderungen umzugehen. Diese neuen Fähigkeiten werden epigenetisch verankert und die Menschen der Zukunft verändern.

Take Aways

  • Die Adoleszenz ist eine biologische und soziologische Phase, in der Jugendliche ihren Platz in der Gesellschaft finden und Entwicklungsaufgaben meistern.
  • Das Gehirn entwickelt sich während Adoleszenz und Erwachsenenalter weiter, wobei neuroplastische Veränderungen im Gehirn auch im höheren Erwachsenenalter möglich sind, jedoch langsamer.
  • In der Adoleszenz wachsen das limbische System sowie das Frontalhirn rasant, jedoch in leicht unterschiedlichem Tempo, was zu einem Ungleichgewicht zwischen emotionaler Verarbeitung und Vernunft führen kann.
  • Merktechniken können kognitive Schwächen kompensieren und das Gehirn unterstützen. Funktionstrainings haben jedoch nur eine punktuelle Wirksamkeit und führen nur zu nahen Transfers.
  • Die Aktivierung von Synapsenverbünden durch Lernen und Aktivitäten führt zur Verankerung von Wissen im Gehirn, während Nichtgebrauch dazu führen kann, dass Wissen verloren geht («use it or lose it.»).
  • Digitale Medien können die kognitive Entwicklung fördern und das Lernen unterstützen, aber auch Risiken wie Suchtpotenzial bergen. Es gibt jedoch noch wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu den langfristigen Auswirkungen digitaler Medien auf das Gehirn.
  • Das Gehirn ist anpassungsfähig und wird neue Wege finden, um mit Herausforderungen umzugehen und sich an die Veränderungen der Zukunft anzupassen.

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