Herr Staub, warum gibt es Erste-Hilfe-Kurse?
Roger Staub. Der normale Verlauf einer psychischen Beeinträchtigung ist der, dass sich Betroffene zwar Hilfe wünschen, sich aber aus Angst vor Stigmatisierung nicht trauen, über ihre Probleme zu sprechen. Sie warten stattdessen, bis es gar nicht mehr geht. Dann ist die Erkrankung in der Regel schon weit fortgeschritten, es kommt zu hohen Folgekosten aufgrund langer Behandlungszeiten und Absenzen am Arbeitsplatz. Wir denken, dass sich an dem Problem nichts ändert, wenn man noch mehr Beratungsstellen schafft. So haben wir nach einem neuen Ansatz gesucht.
Dieser besteht darin, dass wir Menschen aus dem Umfeld des Betroffenen für erste Hilfe qualifizieren; so macht jemand anders den ersten Schritt zur Thematisierung der psychischen Beeinträchtigung.
Wir haben vor bald zwei Jahren eine Befragung durchgeführt, bei der neun von zehn Befragten aussagten: «Ich kenne jemanden in meiner Nähe, dem es psychisch nicht gut geht, und zwar schon länger. Ich würde gern helfen, aber ich weiss nicht wie.» Dafür wurden die ensa-Erste-Hilfe-Kurse entwickelt. ensa ist ein Wort aus der australischen Ureinwohnersprache und bedeutet «Antwort».
Was sind die Inhalte der ensa-Kurse?
Im Kurs wird Basiswissen über psychische Gesundheit vermittelt und wie auf Vorzeichen einer Beeinträchtigung reagiert werden kann. Dabei dienen die fünf Schritte der ersten Hilfe als Leitfaden. Diese werden an den Kursabenden oder auch im Webinar anhand von Fallbeispielen in Rollenspielen geübt - so wie man in einem Nothelfer-Kurs Beatmungsübungen durchführt. Diese Kombination aus Theorie und Übung hilft beim Verankern der fünf Schritte. Teilnehmende sollen Anzeichen psychischer Erkrankungen erkennen und ansprechen können. Es ist jedoch nicht das Ziel, Diagnosen zu nennen oder gar «das Problem lösen» zu wollen.
Wofür stehen die fünf Schritte?
Die fünf Schritte wurden - wie das gesamte Konzept - in Australien entwickelt.
R steht für Reagieren: ansprechen, einschätzen, beistehen, also nicht wegschauen, sondern die Initiative ergreifen, wenn man psychische Beeinträchtigungen beobachtet.
0 steht für Offenheit: unvoreingenommen zuhören und kommunizieren. Hier geht es vor allem darum, einen Rahmen für Gespräche zu schaffen, die aber nicht in abwiegelnde Ratschläge münden dürfen.
G steht für Gib Information und Unterstützung: viele Menschen haben Vorurteile gegen psychiatrische Therapie, deshalb ist es wichtig, gute Informationen über die vielfältigen Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen, anzubieten.
E steht für Ermutigen, und zwar zum Annehmen professioneller Hilfe.
R steht für Ressourcen aktivieren: Es soll herausgefunden werden, welche Personen aus dem Umfeld des Betroffenen unterstützen können.
Wie finden die Kurse statt?
Die Erste-Hilfe-Kurse finden als Präsenzkurse von 4x3 Stunden kompakt an zwei Tagen oder auf vier Wochen verteilt statt. Der Lernerfolg ist mit einem Kurs, der über vier Wochen verteilt ist, am besten. Ein Kurs hat mindestens 8 und höchstens 20 Teilnehmende. Das scheint eine relativ grosse Gruppengrösse, aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich die Teilnehmenden in grösseren Gruppen wohler fühlen, weil man sich weniger exponieren muss.
Leider mussten wir mit dem Covid-79-Lockdown alle Präsenzkurse absagen. Wir haben dann ein Webinar-Konzept entwickelt und getestet. Seit Mai gibt es nun den Kurs auch als Webinar mit 7x2 Stunden.
Wie sind die Kursleiter ausgebildet?
Unsere Instruktoren haben alle einen Erwachsenenbildungshintergrund. Ein Instruktor muss zudem selbst Ersthelfer sein, er sollte eine beruf1iche Nähe zum Thema mitbringen, beispielsweise als Psychologe oder Psychiatriepf1eger. Dies ist aber nicht zwingend. Wir haben beispielsweise auch Peers als Instruktoren, die einen eigenen Erfahrungshintergrund mitbringen und eine Peer-Weiterbildung gemacht haben. Instruktoren benötigen schliesslich noch eine starke Motivation, solche Kurse zu geben, die über die Ausschmückung ihres CV als ensa-lnstruktor hinausgeht.
Wer sollte an Erste-Hilfe-Kursen teilnehmen?
Ich rate jeder Firma 20 Prozent der Mitarbeitenden als Ersthelfer zu schulen, weil man so eine gewisse Gewähr hat, dass in jedem Team eine Person vertreten ist, die merkt, wenn es jemandem psychisch nicht gut geht, und die die ersten Schritte der ersten Hilfe einleitet. So gesehen lohnt sich ein fümeninterner Kurs für die ersten 20 Teilnehmenden bereits, wenn die Firma 100 Mitarbeitende hat. Wir wollten dieses Jahr 5000 Teilnehmer erzielen, dieses Ziel wurde durch den Covid-Lockdown verhindert, aber wir bleiben dran. Mein Ziel ist es, bald ein Prozent der Schweizer geschult zu haben. Ich denke, Ersthelfer für psychische Gesundheit zu sein, muss so normal sein wie ein Nothelferkurs. Es muss selbstverständlich werden. Metastudien haben die Nachhaltigkeit von ensa-Kursen untersucht. Es zeigte sich, dass die Kurse entstigmatisierend wirken, Vorurteile werden abgebaut und die psychische Gesundheit der Teilnehmenden selbst wird gestärkt.
Besten Dank für das Gespräch.