Trotz Fachkräftemangel kaum Neueinstellungen von älteren Erwerbstätigen

Mittwoch, 10. November 2021 - Claudio Zemp
Die älteren Erwerbstätigen sind laut Statistik relativ gut in den Arbeitsmarkt integriert. Doch trotz Fachkräftemangels bemühen sich Unternehmen bisher wenig aktiv um dieses Alterssegment.

Herr Christen, sind Personen ab 55 gefragt im Arbeitsmarkt?

Grundsätzlich gibt es die Bereitschaft, auch Personen ab einem gewissen Alter neu einzustellen. Viele Arbeitgebende sagen, dass sie dies in Betracht ziehen und sich auch um diese Altersgruppe bemühen. In der konkreten Statistik ist diese Altersgruppe bei den Neuanstellungen jedoch klar untervertreten. Da gibt es eine Kluft zwischen Wunsch und Realität. Dies liegt nicht nur an den Unternehmen. Die Arbeitnehmenden sind ab einen gewissen Alter weniger bereit, die Stelle zu wechseln. Von den über 55-bis 57-jährigen Erwerbstätigen, z.B. sagt jede 5. Person, sie sei bereit, noch einmal die Stelle zu wechseln. Bei den über 60-Jährigen ist diese Zahl einstellig.

Wieso nimmt diese Zahl so rapide ab?

Genau wissen wir es nicht. Ältere Erwerbstätige fürchten sich vor der Situation, ohne Stelle dazustehen und haben daher womöglich eher Angst, zu wechseln als Jüngere. Fast die Hälfe der 55+ sagt, sie würde unter gewissen Bedingungen über das Rentenalter hinaus arbeiten. Es sind weniger die finanziellen Aspekte, sondern eher die Wertschätzung und die Möglichkeit von Flexibilität in den Arbeitsmodellen und Aufgaben. Zwei Drittel der Angestellten zwischen 55 und 65 nennen eine gute Gesundheit als Hauptbedingung. 61% sagen, das Arbeitsklima müsse gut sein. Dies ist bekannt. Wenn man als Arbeitgeber will, kann man hier ansetzen und diese Möglichkeiten anbieten.

Tun sie es auch?

Bisher wenig. Nur eine Minderheit trifft aktiv Massnahmen, um ältere Mitarbeitende möglichst lange im Betrieb zu halten. Ein Viertel der Befragten gab an, dass sie in den letzten Jahren aktiv Massnahmen ergriffen haben. Diese Massnahmen decken sich grob mit der Nachfrage der Arbeitnehmenden. Man bietet an, das Pensum flexibel zu gestalten, mehr Ferien oder eine andere Position im Unternehmen zu übernehmen. Am häufigsten wird angeboten, das Arbeitspensum zu reduzieren. Auch monetäre Anreize gibt es, aber relativ selten. 10% der Unternehmen, die Massnahmen ergreifen, zahlen systematisch den Arbeitnehmenden vor der Pensionierung einen höheren Lohn.

Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz zwischen dem, was man tut und dem, was man sagt? Ist der Fachkräftemangel etwa nur ein Phantom?

Nein, der Fachkräftemangel ist kein Phantom. Etwa ein Drittel der Unternehmen hatte in den letzten Jahre Mühe, Arbeitskräfte zu finden. Man spürt den Mangel in gewissen Berufszweigen stärker, etwa in der IT-Branche. Dort gibt es übrigens entsprechende Programme für Erwerbspersonen 50+, um dem Mangel entgegenzuwirken. Auch in anderen Branchen gibt es den Fachkräftemangel. Aber der Leidensdruck ist noch nicht gross genug. Es waren bisher genug alternative Möglichkeiten vorhanden, um den Bedarf zu decken: Die Ausbildung von Lernenden, die Rekrutierung von jüngeren Arbeitskräften oder im Ausland.

Wieso wird der Fachkräftemangel unterschätzt?

Nur eine Minderheit der Unternehmen rechnet aufgrund von Pensionierungen mit einer Verschärfung des Fachkräftemangels in ihrer Branche. Die alternativen Quellen von Fachkräften werden in Zukunft einfach nicht mehr reichen, wegen des demografischen Wandels. Die Pensionierungswelle der Babyboomer wird um 2030 ihren Höhepunkt erreichen. Das geht jetzt los und wird in den nächsten Jahren stärker spürbar werden.

Wie sieht das Bild im europäischen Vergleich in der Schweiz aus?

Die Erwerbstätigenquote zwischen 55 und 64 ist in der Schweiz überdurchschnittlich hoch. 2019 war sie bei 73% der OECD-Durschnitt ist 62%. Die Leute in der Altersgruppe sind gut in den Arbeitsmarkt integriert.

Hat diese Situation auch einen Einfluss auf die politische Debatte um die Erhöhung des Rentenalters?

Ja. Oft hört man als Argument gegen eine Erhöhung, dass Jobs fehlen für ältere Personen im Arbeitsmarkt. Das kann man eben in der Schweiz nicht sagen. Es gibt viele Jobs für Über-55-Jährige. Aber die Furcht vor dem Jobverlust ist eben trotzdem da, weil es in einem solchen Fall schwer ist, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukommen. Auch wenn nur eine Minderheit davon betroffen ist: Diese Angst hat einen Einfluss auf die Rentenalter-Debatte. Unsere Studie zeigt diesen Zusammenhang: Je sicherer der eigene Job ist, desto eher ist man bereit, eine Erhöhung des Rentenalters zu akzeptieren. Es wird auch künftig Arbeitslose über 55 geben. Darum sind Massnahmen wie Überbrückungsleistungen für Ausgesteuerte ab 60 wichtig. Das zusätzliche Sicherheitsnetz für ältere Erwerbslose hat auch einen potenziell entspannenden Einfluss zur Akzeptanz des höheren Rentenalters.

Studie «Länger arbeiten – länger Arbeit geben?»

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