Was bleibt nach der Krise?

Mittwoch, 09. Dezember 2020 - Gregor Gubser
Das Sozialversicherungssystem hat einen wertvollen Beitrag zur Krisenbewältigung geleistet. Wie die Zeit danach aussieht und wie sich die Sozialversicherungen verändern werden, lässt sich in den Augen von Gabriela Medici und ­Lukas Müller-Brunner schwer abschätzen.
Im Rahmen der Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wurde das Instrument der Kurzarbeit grosszügiger angelegt und der Empfängerkreis erweitert. Ein guter Entscheid?

Lukas Müller-Brunner: Auf jeden Fall. Das Ziel war, Kollateralschäden in der ganzen Wirtschaft zu verhindern. Das ist geglückt. Dabei war es richtig, auf ein bewährtes Instrument zurückzugreifen. Das hat sich auch im Vergleich mit anderen Ländern gezeigt.

Gabriela Medici: Ja, das war ein guter Entscheid. Die Schweiz steht nach der Krise deutlich besser da als zum Beispiel die USA oder Grossbritannien. Die Kurzarbeit war dafür ganz entscheidend. Der frühe Entscheid des Bundesrats, Löhne und Stellen zu sichern, war richtig.

Ebenfalls in den Genuss einer Absicherung kamen erstmals Selbständigerwerbende. Was halten Sie davon?

Medici: Es war richtig, «alle» mitzunehmen, auch die Selbständigerwerbenden. Die Krise hat auf beeindruckende Weise gezeigt, dass man die Selbständigen in der Schweiz nicht in einen Topf werfen kann. Es gibt viele Formen von Selbständigerwerbenden; nicht nur Anwälte und Ärzte, sondern auch Kulturschaffende, Menschen im Bildungssektor, in der Logistik oder Journalisten. Nicht immer ist die Selbständigkeit freiwillig und oft auch schwer abzugrenzen. Diese Vielseitigkeit ist uns wohl erst in dieser Krise bewusst geworden.

Müller-Brunner: Selbständigerwerbende sind nicht im klassischen Fokus des Arbeitgeberverbands. Wir sollten hier aber auch nicht in klassischen Verbandsstrukturen oder Sozialversicherungen denken. Die Rechtsform eines Unternehmens darf in so einer Krise nicht darüber entscheiden, wie der einzelne Erwerbstätige behandelt wird. Die Wahl unterschiedlicher Rechtsformen soll Konsequenzen haben. Aber nicht, wenn der entscheidende Faktor nur exogen ist, wie die aktuelle Pandemie oder der Lockdown.

«Die Sozialversicherungen müssen sich weiterentwickeln.»

Gabriela Medici
Zentralsekretärin beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, verantwortlich für die Dossiers Sozialversicherungen und Altersvorsorge

Kurzarbeit gilt als anfällig für Missbrauch. Braucht es Kontrollen und Sanktionen?

Müller-Brunner: Nicht nur Kurzarbeitsentschädigung ist anfällig für Missbrauch, sondern auch andere Sozialversicherungen. Primäres Ziel der Massnahmen in der Coronakrise war zu verhindern, dass viele Unternehmen in Bedrängnis geraten und die Angestellten ihre Stelle verlieren. Ich war selbst erschrocken, wie schnell auch etablierte Unternehmen an ihre Grenzen gestossen sind. Es wäre nicht sinnvoll gewesen, die Unternehmen – ob gross oder klein – im Regen stehen zu lassen. Wichtig war, dass wer zu Recht Hilfe erhalten sollte, diese auch rechtzeitig bekam. Dabei musste das Risiko eines Missbrauchs vorerst in Kauf genommen werden. Eine entsprechende Kontrolle aufzubauen hätte Zeit gebraucht und die hatten wir nicht. Man kann aber jetzt mit Kontrollen anfangen, auch rückwirkend. Wer Missbrauch begangen hat, soll auch sanktioniert werden.

Medici: Die Missbrauchskontrolle ist heute schon recht weit. Und beim Gewerkschaftsbund arbeiten wir weiter daran, dass die Kontrollen hochgefahren werden. Es werden auch Missbrauchsfälle in den Medien auftauchen und wir rechnen vermehrt mit Selbstanzeigen. Es ist eine beeindruckende Zeit, die sowohl Eigenverantwortung als auch Solidarität fördert. Das Wechselspiel zwischen beiden Polen hat gut funktioniert und es wurde viel Energie in einen kreativen Umgang mit der Unsicherheit investiert.

Soll man Firmen unterstützen, die keine guten Zukunftsperspektiven haben?

Müller-Brunner: Die Gefahr besteht, dass eine Strukturbereinigung durch die staatliche Unterstützung verzögert wird. Dies gilt nicht nur für den vergangenen März/April, sondern auch für die kommenden Monate. Dennoch werden Strukturbereinigungen dort, wo sie anstehen, auch stattfinden. Ein Beispiel: Ich wohne neben einem Restaurant und habe während des Lockdowns mit dem Wirtepaar gesprochen. Sie haben nicht gejammert, sondern sahen im Lockdown eine Chance: Dass jene, die ein gutes gastronomisches Konzept haben, überleben werden und die schlechteren Konkurrenten wegfallen.

Medici: Wie soll der Staat wissen, welches Unternehmen zukunftsfähig ist? Der Lockdown, aber auch andere Corona-Massnahmen waren eine enorme Intervention, deren Folgen wir bis heute spüren. Beispielsweise ist der öffentliche Verkehr bei weitem noch nicht gleich ausgelastet wie Anfang Jahr. Nun ist entscheidend, wo wie investiert wird. Vor dem Lockdown gab es keine Alarmzeichen, dass zu viele schlecht aufgestellte Unternehmen existieren.

Müller-Brunner: Der Staat muss nicht unterscheiden können, welche Unternehmen zukunftsfähig sind und welche nicht. Das wird sich in einer funktionierenden Marktwirtschaft von selbst herauskristallisieren. Die Unternehmen sind gefragt, entsprechendes Risikomanagement zu betreiben und Reserven anzulegen. Doch Risikomanagement funktioniert nur, wenn alle die gleichen Bedingungen haben. Das war während des Lockdowns nicht der Fall. Daher waren die Überbrückungshilfen gerechtfertigt. Der weitere Verlauf der Krise wird nun aber zeigen, welche Unternehmen solide sind und welche nicht. Mir macht etwas anderes grosse Sorgen: Es darf daraus nicht die Erwartungshaltung entstehen, dass der Staat in einer nächsten Krise im selben Umfang helfen wird. Es liegt weiterhin in der Verantwortung der Unternehmen, aus der Krise zu lernen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Sie dürfen sich nicht zurücklehnen und in der Erwartung von etwaigen Hilfspaketen das Risikomanagement vernachlässigen.

«Es wäre nicht sinnvoll gewesen, die Unternehmen – ob gross oder klein – im Regen stehen zu lassen.»

Lukas Müller-Brunner

Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, Ressortleiter Sozialpolitik und Sozialversicherungen

Sollten diese Massnahmen auch in «normalen» Zeiten greifen – und somit regulär in die entsprechenden Gesetze aufgenommen werden?

Medici: Notrecht ist immer befristet. Damit die Gesetze langfristig verändert werden können, braucht es den regulären Gesetzgebungsprozess. Doch gewisse Lücken im bestehenden System wurden sicher sichtbar in der Krise. Daran werden wir uns auch in «normalen» Zeiten erinnern.

Werden die Erfahrungen mit diesen Massnahmen zu einem Ausbau der Sozialversicherungen führen?

Medici: Wir haben zum Glück ein Sozialversicherungssystem mit verlässlichen Strukturen. Was noch kommt und wo sich die Pole zwischen Eigenverantwortung und Solidarität bilden, ist nicht vorhersehbar. Die Maul-und-Klauen-Seuche kam zum Beispiel alle paar Jahre wieder und brachte einzelne Landwirte in Not. Darum wurde dann eine genossenschaftliche Versicherung ins Leben gerufen. Es gibt viele – auch sozialpartnerschaftliche – Formen zwischen Eigenverantwortung und gesamtgesellschaftlicher Solidarität.

Müller-Brunner: Ich befürchte, dass eine Erwartungshaltung geschaffen wurde. Nun fragt sich, was in diesem ausserordentlichen Regime notwendig war, und was davon in der neuen Normalität weiter benötigt wird.

Medici: Hier trägt das Verhältnismässigkeitsprinzip; es kam während der Coronakrise zum Zug und wird wieder funktionieren.

Wie weit sollen die Sozialversicherungen gehen, soll jegliches Risiko im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit abgesichert werden?

Müller-Brunner: Nein, Sozialversicherungen sollen nicht alles abdecken. Das widerspricht unserer offenen Gesellschaft, ist schlicht nicht möglich und zudem zu teuer. Der Arbeitnehmer muss realisieren, dass jede Anstellung eine gewisse Unsicherheit mit sich bringt. Ebenso muss der Arbeitgeber mit gewissen Unsicherheiten umgehen können. Chancen und Risiken gehören zusammen. Es gibt drei Wege des Risikomanagements: Man kann Risiken vermeiden, versichern oder tragen. Jegliche Risiken zu vermeiden ist keine Option, alles zu versichern ist zu teuer, also muss man manchmal auch ein Risiko tragen. Dazu gehört, dass ganze Firmen untergehen können, weil ihr Angebot schlicht nicht mehr nachgefragt wird. Es wird wegen der Krise Konkurse geben, aber auch unabhängig davon. So oder so sichert die Arbeitslosenversicherung den Arbeitnehmenden ihr Einkommen.

Medici: In den Sozialversicherungen werden die «klassischen» Risiken Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfall abgesichert. Das steht für mich ausser Frage. Das Betriebsrisiko liegt beim Arbeitgeber, wobei die ALV die Arbeitnehmenden auffängt, die die Stelle verlieren. Die Krise hat aber auch Lücken aufgezeigt: Noch immer fehlt uns eine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Oder es besteht schon lange eine Verfassungsgrundlage für eine Arbeitslosenversicherung für Selbständige – es gibt einfach immer noch kein Gesetz dazu. Freiwilligkeit ist auch bei selbständiger Erwerbstätigkeit nicht schwarz-weiss. Wir werden uns fragen müssen: Wo liegt die Grenze, an der wir kollektive Risikensicherung brauchen?

Aber der Trend geht zu einem Ausbau der Sozialversicherungen.

Medici: Die Sozialversicherungen müssen sich weiterentwickeln. Ein Paradebeispiel sind die Überbrückungsleistungen (ÜL) für ältere Arbeitslose. Hier hat sich über die letzten Jahre ein Bedarf gezeigt, dem nun mit dieser neuen Sozialversicherung begegnet wird.

Müller-Brunner: Die Bedingung für eine Abdeckung bleibt der wirtschaftliche Erfolg. Wenn die Betriebe erfolgreich sind, können sie auch die Arbeitsplätze erhalten.
Weitere Beispiele wären Vaterschafts- oder Adoptionsurlaub. Braucht es das?
Medici: Wir konnten in der Krise viel lernen. Insbesondere, dass das Kollektiv vieles besser gemeinschaftlich lösen kann. Und selbst der Arbeitgeberverband ist mittlerweile mit uns einig, dass die Kinderbetreuung nicht allein sozialpartnerschaftlich verbessert werden kann. Dazu braucht es staatliche Förderung. Den Vaterschafts- und Adoptionsurlaub muss man gesamtgesellschaftlich betrachten. Natürlich bekommt man freiwillig Kinder, aber Kinder liegen auch im Interesse der Gesellschaft. Freiwilligkeit ist auch bei selbständiger Erwerbstätigkeit nicht schwarz-weiss. Wo liegt die Grenze?

Müller-Brunner: Ich habe Mühe, wenn wir die ÜL mit dem Vaterschafts- und dem Adoptionsurlaub in denselben Topf werfen. Die ÜL sind Massnahmen eines ganzen Pakets. Die anderen Massnahmen – wie die rechtzeitige Standortbestimmung – sollen die ÜL verhindern. Die ÜL selbst sind nur das letzte Auffangnetz. Das ist eine ganz andere Ausgangslage.

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