App auf Rezept

Dienstag, 04. April 2023 - Karen Heidl
Die Wirksamkeit digitaler Gesundheits-Anwendungen ist ein relativ neues ­Forschungsfeld. Zwei Expertenvorträge anlässlich der Trendtage Gesundheit ­in Luzern vermittelten Erkenntnisse zum Nutzungsverhalten.

In der Schweiz leidet ca. ein Drittel der Bevölkerung temporär an psychischen Störungen. Davon sucht nur die Hälfte ärztliche Unterstützung. Wiederum nur die Hälfte findet einen Therapeuten. Mit dieser Bestandsaufnahme vermittelte Prof. Thomas Berger, Universität Bern, die Relevanz digitaler Interventionen. So genannte «Sprechzimmer-Therapien» haben eine begrenzte Reichweite, dagegen sind digitale Interventionen skalierbar. Aber sind sie bei psychischen Problemen auch gleich wirksam?

Wirksamkeit digitaler ­psychotherapeutischer Interventionen

In der Forschung werden verschiedene Therapieformen unterschieden. Neben der klassischen Face-to-face-Therapie in einer Praxis existieren rein digitale Lösungen und diverse Mischformen persönlicher Betreuung mit digitaler Unterstützung (siehe Grafik 1).

Zu Email-Therapien gebe es wenig Forschung, so Berger, allerdings beanspruche diese Kommunikationsform doppelt so viel Zeit wie persönlich geführte Gespräche. Digitale Selbsthilfetools, in denen keine Therapeuten involviert sind, seien ebenfalls weniger wirksam. Die Patienten blieben nicht dauerhaft motiviert und frühe Absprungraten seien deshalb sehr hoch. Anders stelle sich die Erfolgsquote bei therapeutisch begleiteten Selbsthilfetools dar. Die so genannten «Blended-Therapien» seien inzwischen auch gut erforscht (siehe Grafik 2).

Selbsthilfetools aus den App-Shops der Smartphones dagegen seien häufig hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nicht erforscht. Allerdings könne man davon unabhängig wissenschaftlich fundierte Aussagen über verschiedene Methoden der Psychoedukation machen. Zu vielen Übungen gebe es Erfahrungswerte, führte Berger aus. Wenn Hilfen zur Selbsthilfe von Fachpersonen begleitet werden, habe dies den Vorteil, dass zwar weniger persönlicher Therapeutenkontakt in Anspruch genommen, jedoch durch die Begleitung die Wirksamkeit gefördert werde. Dies gelte vor allem für die leicht- bis mittelgradigen psychischen Erkrankungen. Digitale Anwendungen zeigen neue Lösungen im Konflikt zwischen Gesundheitskostenmanagement, Wirksamkeit der Versorgung und Versorgungsanspruch der Bevölkerung.

Allerdings, so Berger, seien Apps noch kaum in bestehende Versorgungsstrukturen integriert, es gebe aber Vorreiter wie Australien, Schweden, Norwegen oder Kanada, auf deren Erfahrungswerte man aufbauen könne.

Kategorien digitaler Gesundheitsanwendungen

Schachinger unterscheidet verschiedene Kategorien von Apps (in Klammern: Nutzungswerte aus der EPatient Survey 2022, n = 6000 Befragte in Deutschland):

  • Online-Arzttermine: Dies sind Anwendungen, die eine digitale Terminvereinbarung mit Arztpraxen ermöglichen.
  • Diagnostik-Apps: Mithilfe von Scans und Dateneingaben werden Diagnosen gestellt. (10%)
  • Ärztliche Online-Zweitmeinung: Dabei handelt es sich um Online-Services, die eine Zweitmeinung zu einer geplanten Therapie bzw. Operation abgeben.
  • Wearables und Tracking-Apps: Hard- und Software, die Biodaten erfasst (48%).
  • Digitale Pflegeanwendungen: Angebote für pflegende Angehörige mit Informationen, Lernangeboten und Übungen für die Gepflegten.
  • Online-Sprechstunden: Telemedizinische Angebote mit direktem Arzt-/Therapeuten-Gespräch (16%).
  • Apps, die ein medizinisches Gerät ergänzen: Diese Apps erfassen beispielsweise Messprotokolle, Medikationen, Termine usw.
  • Online-Kurse oder -Coaching: Übungen zu bestimmten Indikationen werden vermittelt. (17%)
  • Medikamenten-Apps: Verwaltung von Medikamenten-Plänen, Wechselwirkungschecks, Erinnerungsfunktionen etc. (17%)
  • Service-Apps von Spitälern: Termine, Serviceangebote von Spitälern.

Wo stehen die Konsumenten?

Mit dem Markt der Gesundheitsapps beschäftigt sich Dr. Alexander Schachinger mit seinem Unternehmen EPatient Analytics (Berlin). Es beobachtet die Entwicklung digitaler Gesundheitsanwendungen für Patienten und Verbraucher. Ein Fazit aus der Marktforschung sei, dass es nicht immer entscheidend sei, ob die Wirksamkeit einer App wissenschaftlich bewiesen sei. Eine handwerklich gut gemachte pseudowissenschaftlich fundierte App könne sehr erfolgreich sein. Dagegen könnten qualitativ hochwertige Apps untergehen, wenn sie nicht im Konsumentenmarkt inszeniert werden, erläuterte Schachinger die Relevanz von Produktmarketing auch in diesem Bereich.

In einer Umfrage in Deutschland, die EPatient Analytics 2022 in Deutschland durchgeführt hat, zeigte sich die Corona-Pandemie als Beschleuniger für digitale therapeutische Angebote (siehe Grafik 3).

Die Abbruchrate bei Anwendungen der Prävention und Online-Therapie sei allerdings nach einem Peak im Corona-Jahr 2021 signifikant. Dabei handelt es sich um einen Effekt, den Thomas Berger bereits anhand der psychotherapeutischen Interventionen erläutert hat und den auch Forschende für Selbsthilfe-Anwendungen bei Lungenerkrankungen (COPD)* festgestellt haben. Je mehr persönliche therapeutische Unterstützung gewährt wird, umso länger anhaltend die Nutzung der digitalen Angebote.

Fazit

Die Forschungslage zur Wirksamkeit therapeutischer Gesundheitsanwendungen zeigt, dass sich diese am besten entfaltet, wenn Apps in konventionelle, persönlich von Fachpersonen begleitete Therapien integriert werden. Der Erfolg von Gesundheitsanwendungen im Sinne ihrer Reichweite korreliert jedoch im Wesentlichen mit ihrer Anwendungsfreundlichkeit und den Marketing-Anstrengungen, die für die Bekanntmachung eines Produkts unternommen werden. Gleichzeitig können digitale Interventionen die therapeutischen Prozesse unterstützen und Kosten für Konsultationen reduzieren. Damit dieser Effekt eintritt, müssen digitale Gesundheitsanwendungen verstärkt ihren Weg in das Versorgungssystem finden – über die App auf Rezept.

Empfehlungen der Redaktion

  • Da es keine allgemeinen Gütesiegel für digitale Gesundheitsanwendungen gibt, empfiehlt sich eine Rückfrage bei einer medizinischen Fachperson, welche Erfahrungen mit welchen Apps gemacht werden.
  • Therapeutische Apps, die bereits ohne ärztliche Konsultation eingesetzt werden, sollten ggf. mit der Ärztin oder dem Arzt erörtert werden.
  • Krankenversicherungen haben eigene Apps im Angebot, über die man sich erkundigen kann. Zum Teil sind diese mit Vergünstigungen für die Versicherten verbunden.
  • Selbsthilfegruppen und Stiftungen geben Empfehlungen für spezifische Apps.

* Talboom-Kamp E, Verdijk N, Kasteleyn M, Harmans L, Talboom I, Numans M, Chavannes N: High Level of ­Integration in Integrated Disease Management Leads to Higher Usage in the e-Vita Study: Self-Management of Chronic Obstructive Pulmonary Disease With Web-­Based Platforms in a Parallel Cohort Design. J Med Internet Res 2017;19(5):e185. DOI: 10.2196/jmir.7037.

Quellenhinweis
Die Berichterstattung basiert auf den Vorträgen von Thomas Berger und Alexander Schachinger anlässlich der Veranstaltung «Trendtage Gesundheit 2023») am
23. März 2023 in Luzern. trendtage-gesundheit.ch

Take Aways

  • Die Wirksamkeit therapeutischer digitaler Interventionen erhöht sich, wenn diese durch Fachpersonen begleitet werden.
  • Digitale Interventionen können das medizinische System entlasten, Therapien unterstützen und somit Kosten-Nutzen-Relationen verbessern.
  • Der Erfolg digitaler Anwendungen korreliert mit Benutzerfreundlichkeit, Bekanntheit und letztlich Nutzerinteresse, weniger mit wissenschaftlicher Evidenz.
  • Im deutschsprachigen Raum sind digitale Gesundheitsanwendungen bereits beim Konsumenten angekommen. Die medizinischen Versorgungssysteme nehmen den Trend verzögert auf.

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