70 ist das neue 60

Freitag, 07. Juli 2023 - Claudio Zemp
Am zweiten Publica-Talk wurden erfrischende Fragen gestellt. Das Rentenalter sei schlicht abzuschaffen, forderte Elisabeth Michel-Alder. Die Sozialwissenschafterin belegte ihre steile These mit qualitativer Forschung zum Thema «Neues Alter».

«Werden wir bald alle 100 Jahre alt?!» Die unendliche Lebenserwartung ist der Albtraum der Pensionskassen und wohl darum war dies der Titel des zweiten «Publica-Talks», der Ende Juni in Bern stattfand. Doris Bianchi, Direktorin von Publica, hatte diese Reihe vor einem Jahr ins Leben gerufen, um über den Tellerrand des Alltagsgeschäfts zu blicken.

Pensionsalter 63 ist die Norm

Bianchi eröffnete als Gastgeberin den Anlass und sagte, dass von mehr als 42000 Personen, die eine Rente von Publica beziehen, immerhin 80 über 100-jährig seien. Die Vorsorge des Bunds sei aber für die Zukunft gerüstet. Allerdings stellte Bianchi auch nüchtern fest, dass es noch ein weiter Weg sei in die Zukunft. So verharrt das effektive Pensionsalter seit Jahren bei 63 Jahren im Schnitt. Zwar stehen den Versicherten viele Instrumente für den individuellen Weg in den (Teil-)Ruhestand zur Verfügung. Am meisten genutzt wird aber der frühzeitige Gang in die Pension. Deshalb sei es wichtig, den Berufsausstieg und das Alter neu zu denken.

Die Klippen im Kopf

«Warum soll ich erst im Alter 65 dicke Bücher lesen?», Elisabeth Michel-Alder sprach erfrischend direkt über ihre Forschung zum Thema «Neues Alter». Niemand habe einem Picasso befohlen, mit 65 Pinsel und Leinwand wegzulegen, sagte die Forscherin, die sich selbst im freigewählten Unruhestand befindet. Sie halte den Dreitakt Ausbildung, Berufsleben, Pension für einen historischen Irrtum, sagte Michel-Alder. Und wenn es nach ihr ginge, sei das Rentenalter glatt abzuschaffen, da es mehr schade als nütze. 70 sei das neue 60, postulierte Michel-Alder ihre steile These, die sie jedoch mit überzeugenden Ergebnissen untermauerte.

In einer qualitativen Forschungsarbeit hatte das Team von Michel-Alder untersucht, wie lange, engagierte Lebenswege zustande kommen und unter welchen Bedingungen Frauen und Männer bis ins hohe Alter aktiv bleiben. Tatsache ist heute, dass rund ein Viertel der Menschen über 65 freiwillig länger erwerbstätig bleibe.

Durchstarten in der Mitte

Das Alter sei unendlich individuell, lautete das erste Fazit der Arbeit. Viele Angestellte im Sample wechselten zeitig ihre Stelle und sattelten ihre neuen Rösslein, weil ihnen klar war, dass der Arbeitsvertrag mit 64/65 endet. Oder sie machten sich spät selbständig, um nicht pensioniert zu werden. Je freier die Frauen und Männer im Berufsleben waren, desto eher bleiben sie aktiv: «Man muss über die Produktionsmittel verfügen. Wer alles im Kopf oder im PC hat, kann leichter wählen.» So sind viele der aktiven Alten freischaffend oder selbständig tätig, wobei es auch Anstellungen mit 90 gibt, eine Ausnahme. 

Einfach weiter machen

Wer nicht in Rente geschickt wird, etwa Gärtner, Anwälte oder Ärztinnen, mache einfach weiter. Während die Gesundheit und die Höhe des Lohns  überraschenderweise eine Nebensache sind, ist eine zentrale Bedingung die Freude und die Perspektive der Tätigkeit. Viele Brüche in der  Lebensmitte führten dazu, dass die Frauen und Männer länger aktiv blieben.

Michel-Alder leitete aus ihrer Arbeit Learnings für Arbeitgeber und für Pensionskassen ab. Den Arbeitgebern legte sie ans Herz, auch Leute über 55 anzustellen. Es lohne sich, Impulse zu setzen. Insofern müsse man den Angestellten die Möglichkeit zur Neuorientierung bieten und entsprechend in eine gute Führungskultur investieren.

Den Pensionskassenverantwortlichen sagte Michel-Alder, sie sollten den Versicherten möglichst viele Wahlmöglichkeiten öffnen. Der Aufschub der Rente, die Möglichkeit zur Teilpensionierung und die Weiterversicherung nach 65 gehören dazu. Sinnvoll sei auch ein Rentensplitting und dass man die Beiträge auf den ganzen Berufsweg verteile. Etwas, woran in den Reglementen selten gedacht werde, sei der Wiedereinstieg nach einem Unterbruch.

Ältere Arbeitskräfte in Zukunft unverzichtbar

Im zweiten Referat kam man wieder auf den Boden der Realität. Nur etwa 100 von mehr als 40000 aktiven Versicherten der Publica sind über 65 Jahre alt. Die oberste Personalerin des Bunds, Rahel von Kaenel, die die Personalstrategie des Bunds umriss, gab ein Bekenntnis ab, dass sich dies ändern müsse. Es sei schlicht ein Gebot der Zukunft: «Ohne die Alten wird es nicht gehen!»

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