Kolumne: Können wir bitte die Teilzeit abschaffen. Und die Vollzeit auch.

Freitag, 08. September 2023 - Matthias Mölleney
«Wir müssen die Wertigkeit von Leistungen in einem anderen Kontext als der Anzahl an Wochenstunden definieren und messen», findet Matthias Mölleney und erklärt in seiner Kolumne warum.

Die Schweiz ist zu einem Land der Teilzeit geworden. 1950 lag die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 49 Stunden, 1990 waren es 42 Stunden, und gegenwärtig beträgt sie nur noch circa 31 Stunden. Und das trotz einer Normalarbeitszeit von 40 bis 42 Stunden. Der Grund liegt in einer immer höheren Nachfrage nach Teilzeitarbeit, inzwischen auch bei Männern und vor allem bei Hochqualifizierten.

Die Vorteile von Teilzeitarbeit liegen auf der Hand: Die Balance zwischen Berufs- und Privatleben gelingt leichter, und die Familien profitieren von einer besseren Aufteilung der Kinderbetreuung. Die Nachteile sind weniger offensichtlich, aber auch beachtenswert. Ein Beispiel: Wenn hochbezahlte Mitarbeitende Teilzeit arbeiten, verdienen sie entsprechend weniger, zahlen also auch weniger ein in die AHV. Das geht vor allem zulasten des Teils, den sie einzahlen, aber nie beziehen können, weil es ein Limit beim Bezug der AHV-Leistungen gibt, aber keines bei den Beiträgen. Und dieser Solidaritätsbeitrag fehlt bei der Finanzierung der Umverteilung innerhalb der AHV. Das spricht aber nicht gegen Teilzeitarbeit, sondern höchstens gegen das Finanzierungskonzept der AHV.

Wir leben in einer Wissensgesellschaft, und mittlerweile sind deutlich mehr als 50% aller Arbeitsplätze sogenannte Wissensarbeitsplätze. Daraus ergeben sich interessante Fragen, zum Beispiel, ob man die Leistungen von Wissensarbeitern und -arbeiterinnen überhaupt sinnvoll in Zeiteinheiten messen kann. Es gibt viele Tätigkeiten, bei denen das möglich ist, aber für Wissensarbeit ergibt das keinen Sinn. Wenn jemand acht Stunden lang nachdenkt, kommt er oder sie nicht zwingend zu doppelt so guten Lösungen wie jemand, der vier Stunden nachdenkt.

Warum reden wir überhaupt von Vollzeit und Teilzeit, was ja darauf hinweist, dass das eine (Vollzeit) höherwertig ist als das andere, das nur ein Teil davon ist? Wenn wir das konsequent weiterdenken, wird das dazu führen, dass wir die Wertigkeit von Leistungen in einem anderen Kontext als der Anzahl an Wochenstunden definieren und messen müssen. Das gilt auch für den Bereich der Führung. Wir müssen aufhören, von Führungskräften eine Mindestanwesenheit von 42 Stunden pro Woche zu fordern, und stattdessen überlegen, woran wir die Leistung von Führung künftig messen wollen. Wir kommen auch zu einer Neubetrachtung von Lohnmodellen, wenn wir nicht mehr Wochenstunden bezahlen, sondern Leistungen und Ergebnisse. Das wird eine anspruchsvolle und interessante Diskussion. Ein Ergebnis dieser Auseinandersetzung steht heute schon fest. Wir müssen den Teilzeitbegriff abschaffen, aber den der Vollzeit auch.

Und dann ist da noch die AHV, für die wir uns vielleicht sogar ein neues Beitragsmodell überlegen müssen, zumindest was die Wissensarbeit angeht. Vielleicht braucht es einen neuen, verbesserten Anlauf für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Oder wir denken darüber nach, wie wir die bisher unbezahlten, aber gesellschaftlich höchstrelevanten Arbeiten, wie zum Beispiel Kindererziehung oder die Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen, in geeigneter Weise sozialversichern können. Oder jemand hat noch eine bessere Idee für die Zeit nach der Abschaffung von Teilzeit und Vollzeit?

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