BGM in der neuen Arbeitswelt: Vieles ist noch offen

Mittwoch, 04. Oktober 2023 - Karen Heidl
Die Parole von «New Work» drängt sich in dieser Zeit vehement in alle Reflexionen über die Transformation der Arbeitswelt. Die «Nationale Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement 2023» warf dabei vor allem ein Schlaglicht auf die Frage, welche Herausforderungen für die Gesundheit der Erwerbstätigen eine neue Arbeitswelt mit sich bringt.

Natürlich – Personalverantwortliche und HR-Fachleute können die Analysen über die Notwendigkeit des Kulturwandels in Unternehmen, über Empowerment der Mitarbeitenden, über New Leadership bereits im Schlaf herunterbeten. Allzu oft werden diese wohlmeinenden Motive wiederholt und ebenso häufig zeigt sich in Unternehmen eine andere Realität. Dies soll keine Kritik sein, eher eine Zustandsbeschreibung einer Situation, in der die Handelnden wissen, dass sich etwas verändern muss, aber die konkreten Lösungen noch verschwommen am Horizont liegen.

Deshalb ist «eine proaktive Auseinandersetzung mit dem Thema New Work wichtig,» sagte Eric Bürki, Geschäftsführer der Veranstalterin «Gesundheitsförderung Schweiz», im Eröffnungsdialog. Es gebe viele Bedrohungen in einer von Veränderungsdynamiken geprägten Unternehmenswelt, die unter den Gegebenheiten des Fachkräftemangels zusätzlichen Herausforderungen gegenübersteht. Das Programm der Tagung widmete sich in über 30 Referaten, Workshops und Diskussionspanels diversen Aspekten der Gesundheit in einer neuen Arbeitswelt. Der Besucherstrom zeigte, dass das Thema starkes Interesse auslöst. Über 950 Teilnehmende netzwerkten und diskutierten lebhaft an den Workshops.

Soziokulturelle Folgen der digitalen Transformation

Prof. Dr. Andréa Belliger setzte in ihrer einleitenden Keynote bewusst ein Ausrufezeichen hinter deren Titel «Gesunde neue Arbeitswelt!» und filetierte anschliessend die Parole von «New Work» in einer Weise, die den Teilnehmenden und Referenten bis zum Schluss der Veranstaltung immer wieder als Referenz diente. Belliger definierte New Work als «Sammelbegriff für sämtliche Einflüsse der digitalen Transformation auf das breite Gebiet von Arbeit.» Die Theologin und Expertin für Gesundheitswirtschaft widmete ihren Vortrag den gesellschaftlichen Phänomenen der digitalen Transformation «jenseits von Homeoffice, ChatGPT und GenZ».

Und damit war sie schon mitten im Thema, denn Digitalisierung ist nicht gleichbedeutend mit digitaler Transformation. Digitalisierung beschreibt eine Umwandlung analoger auf digitale Informationsflüsse, während die digitale Transformation zum Ausdruck bringt, wie Digitalisierung in die Werte und Normen der Gesellschaft einwirkt. Wichtige Begriffe in diesem Zusammenhang sind für Belliger Partizipation, Transparenz, Konnektivität, neue Arbeitswelt u.a. Die Technologie treibt diese Phänomene. So zeige Konnektivität einen Paradigmenwechsel auf, weg von Systemen zu Netzwerken, die mehr sind als Social Networks. Ein System unterscheidet sich von einem Netzwerk dadurch, dass in ihm Rollen, Funktionen und Hierarchien festgelegt sind. In Netzwerken ist dies nicht der Fall.

So wird in einer traditionellen Organisation, die üblicherweise als System beschrieben wird, die Funktion eines Experten mit einer bestimmten Rolle verknüpft, während in einem Netzwerk dieselbe Funktion nicht notwendigerweise mit dem Status des Experten verbunden ist.

Netzwerke haben gleichberechtigte Teilnehmende, die das Netzwerk für verschiedene Bedürfnisse nutzen. Netzwerke sind offen, durchlässig und emergent, nicht hierarchisch. Netzwerke sind komplex, heterogen und ständig im Wandel. Systeme versuchen Komplexität zu reduzieren. Netzwerke lassen Komplexität bestehen. Werte wie offene Kultur, Transparenz oder Partizipation stammen aus Netzwerken , so Belliger. Technologie als Katalysator digitaler Entwicklungen präge nur indirekt die soziokulturellen Folgen.

Belliger stellte im Kontext einer dynamisierten Arbeitswelt zwei Handlungsfelder heraus: Die Bedeutung eines digitalen Mindsets und die Notwendigkeit, Zukunftskompetenzen zu erwerben. Ein digitales Mindset übersetzte Belliger mit den Worten «konsequent digital denken», und zwar auf drei Ebenen: Kultur & Organisation, Prozesse, Daten & Technologien. Investitionen fliessen ihrer Beobachtung nach häufig vor allem in die Technologien, während Prozesse nicht immer stringent durchstrukturiert werden und das Potenzial der Digitalisierung hinsichtlich Effizienz und Kundenorientierung ausschöpften. Auf der Ebene Kultur & Organisation herrscht laut Belliger im Wesentlichen Konfusion. Reflexionen über Werte, gemeinsame Visionen und eine konsistente Gesamtstrategie hinkten häufig der Transformation hinterher. Belliger betonte, dass alle Ebenen auf dem Weg einer erfolgreichen Transformation bearbeitet werden müssten. Bei dieser Aufforderung konnten die Teilnehmenden den Grund für das Ausrufezeichen hinterm Vortragstitel erahnen.

Bei Zukunftskompetenzen stehen sich Pessimisten und Optimisten gegenüber, sind sich aber einig, dass Technologie Jobs vernichten wird. Belliger skizzierte eine pessimistische Haltung, die eine ersatzlose Streichung prophezeit, was die Gesellschaft vor neue Probleme stellen werde, während eine optimistischere Variante davon ausgehe, dass es neue Aufgaben geben wird, die neue Kompetenzen erfordern. Diese Herausforderungen stünden bereits länger auf der Agenda.

Grundlegende Zukunftskompetenzen

Belliger referierte auf einen Blogpost, den Stephen Downes, ein kanadischer Wissenschaftler im Bereich E-Learning, 2006 verfasst hat. Nach Downes sind es folgende grundlegende Fähigkeiten, die es zu lernen gilt, um in einer komplexen Umwelt resilient zu bestehen:

  1. Wie man Konsequenzen vorher­sagen kann
  2. Wie man liest
  3. Wie man Wahrheit von Fiktion unterscheiden kann
  4. Wie man sich einfühlen kann
  5. Wie man kreativ sein kann
  6. Wie man klar kommuniziert
  7. Wie man lernt
  8. Wie man gesund bleibt
  9. Wie man sich selbst wertschätzt
  10. Wie man sinnvoll lebt

André Lüthi, Mitinhaber und Verwaltungsratspräsident der Globetrotter Group AG, schloss in seiner Keynote über wertebasierte Führung am Ende der Tagung an diese einfachen, zeitlosen Prinzipien an. Während viele Postulate des New Work den Eindruck erwecken, als sollte gerade die Arbeitswelt komplett neu erfunden werden, kam Lüthi auf Themen wie Leidenschaft, Vertrauen, Gemeinsamkeit, Grosszügigkeit, Offenheit und vieles mehr zu sprechen, was das menschliche Miteinander seit je her auf ein tragfähiges Niveau hebt. So sieht sich Lüthi auch nicht verantwortlich dafür, seine Belegschaft zu motivieren, sondern ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich die Mitarbeitenden mit Leidenschaft verwirklichen können. In diesem Kontext steht auch die Ferienregelung bei Globetrotter AG: Die Mitarbeitenden haben Anspruch auf 12 Wochen Ferien pro Jahr, wovon 5 Wochen bezahlt werden. Die Personalaufwände für Vertretungen trägt das Unternehmen. Die Reiseerfahrung kommt wiederum den Globetrotter-Kunden zugute. Die Unternehmensentwicklung folgte auch nicht akademischen Strategie-Empfehlungen, sondern sehr stark dem Bauchgefühl, das sich jeweils bei der Frage einstellte: «Trauen wir uns das zu?»

Handlungsfelder über Handlungsfelder für Unternehmen

Hört man heute Unternehmensvertretern zum Thema New Work zu, stellt sich die Realität als eine fieberhafte Suche nach Lösungen für diverse Herausforderungen der Zeit dar.

Sven Goebel, Senior Business Analyst bei der SBB, berichtete von seinem Unternehmen ein Ringen mit dem demografischen Wandel: Die Boomer-Generation gehe in Pension und der Fachkräfte-Mangel lasse grosse Lücken erwarten. Die Jungen tickten anders: Sie fühlten sich weniger an ein Unternehmen gebunden, und die Krankheitsausfälle seien höher als bei früheren Generationen. Die Möglichkeiten der Flexibilisierung der Arbeit seien zudem nicht gerecht zwischen Mitarbeitenden in den Zügen und an den Gleisen einerseits und den Büroangestellten andrerseits verteilt. Hier sehe die SBB Nachstellbedarf. All das ist verbunden mit Aspekten des betrieblichen Gesundheitsmanagements wie der Erhalt der Arbeitsfähigkeit älterer Menschen oder psychische Gesundheit und Life-Work-Balance.

Die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz hat sich intensiv mit den gesundheitlichen Folgen der neuen Arbeitswelt auseinandergesetzt und dazu den – noch frühen – Forschungsstand erhoben. Daraus abgeleitet wurden Themen, die derzeit bearbeitet werden.

Im Frühjahr 2024 soll eine Website gelauncht werden, die Tools und Hinweise zu verschiedenen Fragen anbietet, beispielsweise: Wie entscheidet man, welche Arbeit zu welchem Menschen am besten passt? Wie kann man Menschen helfen, sich um ihre eigene Gesundheit zu sorgen? Welche rechtlichen und ethischen Fragen stellen sich im Umgang mit Daten? Unterstützt oder behindert die Büro- oder Werkplatzgestaltung Prozesse und gewährt sie Partizipation? Via Link können sich Interessierte registrieren, um sich über den Launch informieren zu lassen.

Regulierung vs. Autonomie

Heute fehlten im Hinblick auf die digitale Transformation zu einem grossen Teil noch Regulierungen, erklärte die Juristin Dorothee Auwärter von Schiller Rechtsanwälte AG. Viele Fragen nach Legalität und Legitimität seien noch in der Schwebe. Als ein Beispiel dafür nannte sie eine Vertreterin der so genannten Plattform-Ökonomie, die Firma Uber, und den Disput, ob die Fahrerinnen und Fahrer als Angestellte oder als Selbständige zu betrachten seien. Ein Genfer Gericht hat sie jüngst als Angestellte klassifiziert, so dass nun Sozialabgaben von Uber nachzuzahlen sind. Allerdings sei man in anderen Ländern nicht unbedingt der gleichen Ansicht. Der Status der Freiberuflichkeit und Selbständigkeit sei in einem Mandatsverhältnis genau zu prüfen, empfahl Auwärter. Es gebe hierfür Kriterien wie beispielsweise Weisungsrechte, zugewiesene Arbeitsplätze u.a. Hilfreich sei es, wenn sich selbständig Erwerbende im Handelsregister eintragen liessen. Aus ethischer Sicht, so führte Cornelia Diethelm, Centre for Digital Responsibility aus, sei es relevant, das Arbeitgebende Verantwortung übernehmen. So könne es Situationen geben, in den Personen prekäre Arbeitssituationen akzeptierten, weil sie gut bezahlt werden. Prekär bedeute beispielsweise, dass keine soziale Absicherung stattfindet.

Eine Frage beschäftigte die Workshop-Teilnehmenden besonders, nämlich die der Rechtmässigkeit von Überwachung. Das Arbeitsrecht regelt diesen Punkt eindeutig in der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz (Art. 26 ArGV 3): Das Verhalten der Mitarbeitenden darf nicht überwacht werden. Erlaubt seien allerdings Ergebnis- und Qualitätskontrollen. Der Einsatz von anonymisierten Workplace-Analytics könne allerdings das Vertrauen der Belegschaft in die Führung erschüttern, beispielsweise, wenn die Anzahl geschriebener Emails gezählt würde. Solche Überwachungen mögen legal und vielleicht sogar im Sinne des Unternehmensinteresses sein, aber sind sie legitim, wenn Mitarbeitende dies als belastend empfinden?

Diese und folgende Diskussionen über die gesetzliche Regulierung zur Arbeitszeit und die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, während viele Arbeitnehmende die Flexibilisierung der Arbeitszeit fordern, zeigten, dass die Rolle des Rechts zum Schutz von Arbeitnehmenden auch kollidieren kann mit der Forderung nach Autonomie. Die arbeitgeberische Fürsorgepflicht wird dann als einengend oder gar übergriffig empfunden. Diethelm legte die ethische Sicht aufs Thema dar: Menschen seien unterschiedlich, das sei zu respektieren. Die Balance zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und denen des Teams sei nicht notwendigerweise von Konsens geprägt. Es brauche neue Kompetenzen, um mit der Freiheit der autonomen Arbeit umzugehen . Dabei müssten sich gerade Vorgesetzte vorbildhaft verhalten und ihre Mitarbeitenden anleiten.

Wieviel System – wieviel Autonomie?

Eric Montadon, Leiter der ASA-Fachstelle der EKAS (Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit) diskutierte in seinem Workshop ein ähnliches Spannungsfeld, zwischen System und Kontrolle einerseits und Forderungen nach mehr Flexibilität und Autonomie andererseits.

Arbeits- und Gesundheitsschutz wird als ganzheitliches System definiert, implementiert und kontrolliert. Die Verantwortung für Arbeitsschutz liegt vor allem bei der Führung. Es werden nicht nur Massnahmen zum Arbeitsschutz kontrolliert, sondern auch sämtliche Prozesse innerhalb des Systems. Selbst die Mitwirkung der Betroffenen ist in entsprechenden Verordnungen festgehalten.

Die Notwendigkeit, Gesundheitsschutz auch im Homeoffice zu realisieren, stand für die Workshop-Teilnehmenden ausser Frage. Offen blieb allerdings die Frage der Systemhaftigkeit, die sich vor allem mit Verordnungen, Normen und Bürokratie ausdrückt. Wohl kaum jemand möchte Arbeitsplatzinspektoren in der Privatwohnung tolerieren. Dennoch müsse es Anweisungen, Instruktionen und Tools für den Gesundheitsschutz geben, war man sich einig.

Montadon stellte auch die Frage in den Raum, wie man in nicht hierarchischen Arbeitsumgebungen Verantwortliche für die Überwachung der Einhaltung von Regelungen benennen könne. Die Realität von Unternehmen, die in holokratischen Organisationsformen arbeiten, hat bereits Antworten für die Allokation von Verantwortung. Wenn man aber von Präventivkultur in Unternehmen im Zusammenhang mit New Work spricht, ist eine Reflexion empfehlenswert, ob die Systeme zur Durchsetzung weiterhin an hierarchische Organisationen gebunden sein müssen oder ob es alternative Lösungen geben kann.

Kommentar als Fazit

Auch das betriebliche Gesundheitsmanagement kann sich den Diskussionen, die sich um den Begriff New Work ranken, nicht entziehen. Dabei ist zwar noch nicht klar, welche Konsequenzen sich aus der digitalen Transformation und ihrem Einwirken auf die Gesellschaft ergeben werden, es zeichnet sich jedoch ab, dass sorgfältig darüber nachgedacht werden muss, wie man die Errungenschaften des Persönlichkeits-, Arbeits- und Gesundheitsschutzes, der sozialen Absicherung und der verbesserten Chancengleichheit erhält, während man andererseits die Chancen nutzt, die ein höherer Grad an Autonomie bietet. Dass diese reale, manchmal aber auch nur vermeintliche Unabhängigkeit auch das Potenzial hat, gesundheitliche Schäden zu verursachen, darf nicht vergessen werden, sonst entpuppt sich die vermeintliche Innovation als Regression. Ein wesentliches Element für eine positive Entwicklung stellt daher ein ausgeglichenes Verhältnis von Vertrauen seitens der Arbeitgebenden und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, seitens der Arbeitnehmenden dar.

Quelle der Vorträge

Nationale Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement 2023 mit dem Titel: «Gesunde neue Arbeitswelt?» am 20. September 2023 im Kursaal Bern. bgm-tagung.ch

Take Aways

  • New Work kann als Sammelbegriff für sämtliche Einflüsse der digitalen Transformation auf das Gebiet der Arbeit verstanden werden.
  • Es gibt spezielle Zukunftskompetenzen, die sich auf ganz bestimmte einzelne Fähigkeiten beziehen, und es gibt allgemeingültige Fähigkeiten, die Menschen lebenslanges Lernen, Selbstverwirklichung und Selbstfürsorge erlauben.
  • Unternehmen befassen sich derzeit mit vielen offenen Fragen im Zuge der Flexibilisierung der Arbeitswelt, des Fachkräftemangels, des demografischen Wandels. Betriebliches Gesundheitsmanagement spielt in allen Themen eine wichtige Rolle.
  • Im Frühjahr 2024 launcht die Organisation Gesundheitsförderung Schweiz eine Website, in der man Antworten auf aktuelle Handlungsfelder im Zusammenhang mit New Work geben will.

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