Ein Lob auf die Routine

Mittwoch, 25. Mai 2022 - Karen Heidl
Warum Routinen wichtig sind und warum sie gerade in Veränderungssituationen unterstützen können. Ein Gespräch mit dem Organisations- und Arbeitspsychologen Dr. Wolfgang Schnell.
Gemeinhin gilt die Routine als Innovationskiller. So zielt manche Reorganisation darauf ab, althergebrachte Prozesse aufzubrechen. Wie wirkt sich dies auf die Mitarbeitenden aus?

Routinen sind wie Rituale. Sie helfen Menschen zu erkennen, wie ein Unternehmen funktioniert. Wenn jemand neu in ein Unternehmen kommt, dann schaut sich diese Person erstmal die Routinen und Rituale an, weil diese die Kultur des Unternehmens widerspiegeln. Sie zeigen den Umgang miteinander und Werte, die die Menschen teilen. Im Alltag vertrauen Menschen auf Routinen. Man will ja nicht, dass jeden Morgen die Kaffeemaschine anders funktioniert oder das Auto anders bedient werden muss. Routinen erleichtern uns den Alltag.

In Veränderungsprozessen besteht das Problem meiner Ansicht nach häufig darin, dass man zu viel in zu kurzer Zeit verändern möchte. Der Psychotherapeut Klaus Grawe hat vier Grundbedürfnisse von Menschen herausgearbeitet. Das wichtigste neben Lust/Unlust, Bindung und dem Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz ist in diesem Zusammenhang das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle. Menschen können dann gut arbeiten und sind leistungsfähig, wenn sie das Gefühl haben, alles sei geregelt. Dabei helfen Routinen sehr. Sie geben Orientierung im Arbeitsumfeld.

Menschen im Burnout berichten fast alle von einem Orientierungsverlust. Sie wissen beispielsweise nicht mehr, ob sie in der Firma erwünscht sind. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll, ob sie ihren Job behalten werden. Die Menschen sind sich im Unklaren hinsichtlich der Frage, was von ihnen erwartet wird. Diese Art von Verunsicherung ist das Problem bei vielen Veränderungsprozessen.

Heisst das im Umkehrschluss, dass man zu dem Zeitpunkt, zu dem man Routinen aufbricht, neue installieren sollte?

Ja. Kurt Lewin hat bereits in den 1970er Jahren ein Modell für Change Management dazu entworfen, das aus drei Phasen besteht: In der ersten Phase muss ein Status quo aufgebrochen werden. Diese Phase nennt er Unfreeze. Danach folgt als zweite Phase ein Tal der Tränen, in dem sich Leistungen, Ergebnisse oder die Produktivität verschlechtern. Man muss sich als Führungskraft bewusst machen: Jede Veränderung führt zunächst zu einer Verschlechterung. Man muss dann mit Geduld aus dieser Phase herausführen und in der letzten Phase auf einem neuen Niveau die Situation wieder «einfrieren» (Freeze). Einfrieren heisst, dass man wieder neue Routinen schaffen muss. Man kann nicht alles spontan gestalten; das würde die Organisation überfordern. Die Menschen brauchen wieder Orientierung.

Ich bin zudem der Meinung, dass Veränderungsprojekte auch einmal explizit abgeschlossen werden müssen. Es scheint mir ein häufiger Fehler zu sein, dass man Veränderungsprojekte in bestimmten Abständen aufgleist, aber die vorhergehenden nicht formal abschliesst. Auch dies kann bei Menschen zur Orientierungslosigkeit führen.

Diese Ansicht wird ja teilweise sogar bestritten, wenn von permanenter Veränderung gesprochen wird und davon, dass man mit technologischen und Marktveränderungen ständig Schritt halten müsse. Wie schafft man es, die Balance zwischen Kontinuität und Veränderung zu halten?

Ich komme noch einmal zurück auf meine Aussage, dass Veränderungsprozesse auch beendet werden müssen. Hier ist eine eindeutige Kommunikation wichtig, um Mitarbeitenden Klarheit zu geben. Man kann durchaus mehrere Reorganisationen durchführen, die Frage ist nur: Wie umfassend sind sie? Ich denke, dass man zwei Dinge beachten muss: In der Kommunikation geht es in der Regel um die Fakten, bei den Menschen steht aber eher die emotionale Ebene im Vordergrund. Es beschäftigen sie zum Beispiel Fragen wie: Verliere ich meine Mitarbeitenden? Wird es meine Abteilung noch geben? Wer sich mit solchen Fragen beschäftigt, ist nicht mehr in der Lage, den Markt im Auge zu behalten oder innovative Ideen zu haben. In solchen Zeiten suchen die Menschen für sich selbst wieder Sicherheit, nach Wegen, wieder gut funktionieren zu können und nach neuen Routinen. Deshalb ist es auch in sehr dynamischen Umfeldern notwendig, Sicherheit im Unternehmen zu geben. Das müssen nicht ganz bestimmte Dinge sein, aber etwas sollte auch in Veränderungen Kontinuität aufweisen, und seien es nur kleine Dinge wie die Spesenabrechnungen. Ausserdem sollte man beispielsweise bei grösseren Veränderungen vielleicht erstmal auf einen Gebäudewechsel verzichten.

Dies erinnert mich an die Versuche, Mitarbeitende an flexible, nicht persönliche Arbeitsplätze zu gewöhnen. Im Ergebnis wurden diese Versuche mit allerlei Tricks ausgehebelt, um dann doch mit den Lieblingskollegen zusammenzusitzen. Es gibt eben soziale Umgebungen, in denen man sich besonders wohl fühlt.

Das hat auch mit dem Gefühl von Heimat zu tun. Dort hat man Sicherheit. Und wenn man das Gefühl hat, kann man auch innovativer sein und mehr explorieren.

Sicherheit schafft Stärke …

Ja, das wissen wir von John Bowlby und Mary Ainsworth, die die Entwicklung von Kleinkindern untersucht und festgestellt haben, dass sichere Bindungen mit den Erziehungspersonen den Kindern ermöglichen zu explorieren. Ich denke, dass ein ähnlicher Zusammenhang im Arbeitsleben besteht. Wenn Menschen Sicherheit haben, können sie mehr wagen.

Das bedeutet, dass in Veränderungssituationen erst personelle Fragen geklärt sein müssen, bevor man überhaupt in die Veränderung geht. Welche weiteren Empfehlungen haben Sie für Veränderungssituationen?

Es braucht immer eine gute Durchmischung in den Teams. Es gibt Menschen, die sind eher auf Beständigkeit ausgerichtet, andere streben nach Wandel. Das ist das Modell aus dem Buch «Die vier Grundformen der Angst» von Fritz Riemann. Die beiden anderen Pole sind Nähe und Distanz. Er erklärt diese Grundformen psychiatrisch, während ich dies nun auf das Team adaptiere. Für ein gesundes Team ist es nicht gut, nur Menschen an Bord zu haben, die nach Wandel streben. In einem guten Team braucht es auch das gegenteilige Streben, damit das Neue geerdet wird. Das meinte ich eben mit dem «Einfrieren». Es braucht nicht nur diejenigen mit neuen Ideen, sondern auch solche, die die Details auf den Boden bringen. Die Kreativen sind nicht immer die Besten, um einer Innovation eine Struktur zu geben. Dazu braucht man Menschen, die auf Beständigkeit ausgelegt sind.

Der zweite Hinweis für Führungskräfte zielt auf das typische Verhalten bei Einstellungen, solche Menschen auszuwählen, die uns selbst ähnlich sind. Wenn man ein Unternehmen führt, braucht man aber auch Menschen, die anders sind, die beispielsweise die Buchhaltung machen, Dinge zu Papier bringen, ein Projekt zu Ende führen, und nicht nur solche, die ständig neue Ideen kreieren.

Ein dritter Punkt: Die Menschen sollten nicht immer die gleiche Rolle als Ideengeber und Innovator einerseits oder auf der anderen Seite als Strukturgeber und Prozessentwickler spielen müssen. Das ist nämlich sehr anstrengend, wenn die einen immer aus der Perspektive der Bewahrer argumentieren müssen, während die Innovatoren ständig neue Türen öffnen sollen. Auch wenn die Persönlichkeiten vielleicht diesen Rollen entsprechen, ist es notwendig, dass diese gewechselt und Aufgaben entsprechend zugewiesen werden. Das ist wichtig für Lernerfahrungen innerhalb des Teams.

In diesem Zusammenhang finde ich auch das Zusammenspiel von Jüngeren und Älteren spannend, das in Veränderungssituationen sehr befruchtend sein kann. Ältere gehen häufig gelassener mit Veränderungen um, sind aber nicht unbedingt rückständiger, auch wenn dies einem gängigen Klischee entspricht.

Bei Ritualen und Routinen muss man halt immer schauen, ob sie noch zweckmässig sind oder ob sie nur existieren, um das Vergangene zu bewahren. Um das herauszufinden, ist es auch mal wichtig, sich Rückmeldung von Jüngeren geben zu lassen. Wenn ältere Arbeitnehmende dazu bereit sind, dann ist das eine hervorragende Ausgangssituation. Die Argumentation «Das haben wir schon immer so gemacht» grenzt dagegen nicht nur die Jüngeren aus, sondern auch das Umfeld. Dann verliert man auch schnell den Markt aus den Augen.

Wann wird denn Routine krankhaft? Woran erkennt man, dass einzelne Personen ein Problem mit Routine haben?

Routine wird dann zum Zwang, wenn man etwas gegen den eigenen Willen tun muss. Wenn Menschen also zwanghaft Regeln wünschen, die aber nicht dem Leben und dem Wohlbefinden dienen und nicht auf freien Entschlüssen beruhen. Oder wenn man versucht, anderen Regeln überzustülpen, die eine Art unbegründete Überregulierung darstellen. Dann wird eine Routine zum Zwang. Menschen haben für diese Art von Zwang ein sehr gutes Gespür, und wenn einem etwas nicht normal vorkommt, dann ist es auch nicht normal. Als Führungskraft kann man da seinen Wahrnehmungen vertrauen. Natürlich kann es Ticks geben, die tolerabel sind. Wenn aber solche Ticks beginnen, andere zu stören, dann sollte man das thematisieren. In diesem Fall muss man das störende Verhalten sehr genau beobachtet haben und man muss der betreffenden Person erklären können, in welcher Form es stört. Man muss ihr genau deutlich machen, welche Veränderung stattfinden muss und welches Verhalten erwartet wird.

Aber es gibt natürlich auch die Routine, die krank macht …

In der positiven Psychologie hat Mihály Csíkszentmihályi die Flow-Theorie entwickelt; Flow ist ein Zustand, in dem Menschen hochkonzentriert ohne Unter- und Überforderung arbeiten können. Auch Unterforderung ist Stress. Man nennt diesen Zustand, in dem Menschen sich gar nicht mehr einbringen können in ihre Arbeit, die zudem eintönig ist, auch Boreout. Das ist insbesondere für gut ausgebildete Menschen ein Problem. Sie arbeiten häufig destruktiv und nutzen ihre Kreativität, um dem Unternehmen zu schaden.

Wie erklärt sich der häufige Widerstand gegen Veränderungen im Unternehmen?

Häufig wird nicht klargemacht, warum Veränderung notwendig ist und wo sie stattfinden muss. Dies ist besonders wichtig bei Menschen, die auf Beständigkeit ausgelegt sind. Man muss ganz deutlich machen, dass es das Unternehmen nicht mehr geben wird, wenn externe Veränderungen im Markt oder in der Technologie zu lange ignoriert werden.

Verweigerungshaltungen sind ja häufig zutiefst irrational und können mit persönlichen Konflikten verbunden sein, die wenig mit dem Arbeitsplatz zu tun haben.

Widerstand ist ja eigentlich etwas Natürliches. Und er ist sogar gut, denn mit dem Widerstand kommen die Themen auf den Tisch, die Führungskräfte oder Projektleitende übersehen haben. Deshalb ist es notwendig, nicht gegen den Widerstand zu agieren, sondern sich auf die Argumente einzulassen, um herauszufinden, wo die Ursachen liegen. Dazu kann man vier Ebenen anschauen: 1. Ist der Grund Nichtwissen? Weiss die Person bestimmte Dinge nicht, weil sie nicht kommuniziert wurden? 2. Die Person ist eigentlich gut orientiert, aber sie versteht die Zusammenhänge noch nicht, weil die Kommunikation missverständlich war. 3. Die Person weiss alle Beweggründe, glaubt sie aber nicht und versucht sich «herauszumogeln». Das Aussitzen bis zur baldigen Pensionierung oder die Leugnung, dass es die Unternehmensleitung ernst meint, sind mögliche Reaktionen. Auch zu viele Veränderungsprojekte können dazu führen, dass deren Ernsthaftigkeit angezweifelt wird. Nichtglauben führt häufig zu passivem Widerstand, der gar nicht laut formuliert wird. 4. Die Veränderungsargumente werden verstanden und geglaubt, aber die Person hat Angst vor Überforderung.

Eine Führungskraft kann nur über Gespräche herausfinden, wo die Ursachen liegen. Und sie muss unmissverständlich verbal und durch entsprechendes Führungshandeln klarmachen, dass sie es ernst meint. Das ist vor allem notwendig, um die dritte Ebene, den Glauben an die Veränderung, zu adressieren. In Bezug auf die vierte Ebene, die Angst, ist es wichtig, Sicherheit zu geben. Fehlende Orientierung und mangelnde Sicherheit führen zu Dauerstress, der in einen Burnout münden kann.

Ist Veränderung trainierbar?

Vor allem die Kommunikation kann man trainieren. Und von Widerstand, der aus schlechter Kommunikation resultiert, kann man gut lernen.

In der Organisationsentwicklung werden im Wesentlichen zwei Wege zur Veränderung beschrieben: Entweder man bezieht alle ein und lässt das Vorhaben unter Einbezug aller entwickeln. Das benötigt mehr Zeit, führt aber zu einer höheren Beteiligung und besserem Commitment. Oder man entscheidet sich für den «Bombenwurf», bei dem nur wenige Mitarbeitende am Veränderungsprojekt beteiligt sind, das am Tag X allen Mitarbeitenden kommuniziert wird. Das führt häufig zu grossem Widerstand und auch dazu, dass manche im Widerstand verharren. Man sollte sich also gut überlegen, wie weit Transparenz und Beteiligung in den verschiedenen Veränderungsphasen möglich und erwünscht sind. Es ist entscheidend, sich gut zu überlegen, wo und wie man die Weisheit der Vielen im Veränderungsprozess einbindet.

Das ist immer ein zweischneidiges Schwert, denn je länger ein Veränderungsprojekt dauert, umso schwieriger kann es für einige Menschen in der Organisation werden.

Wenn Sie versuchen, ihre Arme einmal andersherum als gewöhnlich zu verschränken, dann fühlt sich das erstmal komisch an. Unser Bauch fühlt sich erstmal nicht wohl damit. Das ist völlig natürlich. Man realisiert, dass man etwas lernen muss. Das ist im ersten Moment keine angenehme Nachricht. Man muss den Menschen zugestehen, dass sie ein wenig Zeit benötigen, sich an diesen Gedanken der Veränderung zu gewöhnen.

Lernen ist ein schönes Stichwort, weil Lernen auch ein Hebel sein könnte, Menschen veränderungsfreudiger zu machen. Lernen könnte so als Teil der Unternehmenskultur ein Veränderungsmuskel sein.

Lernen funktioniert am besten, wenn man sich selbst etwas nicht mehr erklären kann und eine Dissonanz erfahren wird. Deshalb braucht es auch diesen Adaptionszeitraum, um zu realisieren, dass Lernen Veränderungen herbeiführen kann.

Zur Person

Wolfgang Schnell studierte Pädagogik (Promotion) und Psychologie. Nach seiner beruflichen Karriere als Lehrer an verschiedenen Schulen machte er sich mit seinem Beratungs- und Coaching- Unternehmen Abrimos selbständig. Neben seiner Beratungstätigkeit doziert er u.a. an der Pädagogischen Hochschule Sankt Gallen, an der Technischen Universität in Kaiserslautern und an der Kaleidos Fachhochschule Schweiz. Wolfgang Schnell ist
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie sgaop.
Mehr Informationen auf der Website.

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