Neue Schweizer Norm soll HR professionalisieren

Montag, 12. Juni 2023 - Simon Bühler
Die Eignungsdiagnostik zur Beurteilung von Kandidierenden ist bei Stellen­besetzungen eine entscheidende HR-Disziplin – bisher jedoch ein weitgehend ­unreguliertes Berufsfeld. Eine Schweizer Norm mit Qualitätszertifikat für eine neue Berufsbezeichnung will das nun ändern.

Eignungsdiagnostik ist ein weit gefasster Sammelbegriff für diverse Methoden, um Bewerbende auf ihre Fähigkeiten, Wertehaltung oder Persönlichkeit zu prüfen – mit entsprechend grosser Verantwortung im Umgang mit sensiblen Daten und riskant kostspieligen Folgen bei Fehlentscheidungen. Kritische Stimmen sehen in den heute angewendeten Instrumenten der Eignungsdiagnostik allerdings grosse Qualitätsschwankungen. Demnach reiche die Palette in der Praxis von Astrologie, Graphologie und subjektivem Bauchgefühl über wissenschaftlich mehr oder weniger seriöse Testverfahren bis hin zu finanziell aufwendigen Assessment Centern, während neuerdings auch vermehrt KI-gestützte Technologien zum Einsatz kommen.

Berufsbild pragmatisch verbessern

«Im HR und seitens Anbieter wird viel Blödsinn getrieben», sagt Arbeits- und Organisationspsychologe Sébastien Simonet. Er ist Geschäftsführer des Assessment-Anbieters Nantys. Als Mitglied der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) gehört er zu den treibenden Mitinitiatoren der Idee, für die Anforderung an berufsbezogene Eignungsdiagnostik eine Schweizer Norm zu lancieren. Das Ziel der FSP besteht darin, im Einklang mit den juristischen Rahmenbedingungen eine «qualitätsgesicherte, transparente und vergleichbare Gestaltung von berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen sowie eine pragmatische Verbesserung des Berufsbilds» zu erreichen. Denn ein standardisiertes Verfahren, das auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, sei weniger anfällig für kognitive Verzerrungen und Denkfehler. Als Arbeitsgrundlage stützt sich das Schweizer Projekt mit der Eignungsbeurteilung nach DIN 33430 auf eine bestehende Norm aus Deutschland. 

«Im HR und seitens Anbieter wird viel Blödsinn getrieben.»

Sébastien Simonet
Geschäftsführer, Nantys

Die Schweizerische Normen-Vereinigung (SNV), die für die Vergabe von Normen zuständig ist, unterstützt die nationale Anpassung der DIN-Norm, wie dies Österreich vormachte: So soll sich die Schweizer Norm am Puls der Zeit orientieren. Und zwar so, dass sich darauf basierend eine Berufszertifizierung zur Eignungsdiagnostikerin oder zum Eignungsdiagnostiker entwickeln lässt, was bisher ungeschützte Berufsbezeichnungen sind. Laut Sébastien Simonet soll sich die Zertifizierung im Sinne eines Weiterbildungsausweises nicht nur an Fachkräfte aus der Arbeitspsychologie richten, sondern explizit auch an HR-Fachleute. Diese könnten sich je nach Vorwissen selbständig oder im Rahmen eines rund halbjährigen Lehrgangs ein eignungsdiagnostisches Grundwissen aneignen und sich damit auch nachhaltiger auf dem HR-Arbeitsmarkt positionieren.

Verantwortung für künstliche Intelligenz

«Infolge der digitalen Transformation riskieren gewisse HR-Berater, ihre Jobs zu verlieren», warnt Simonet. Gerade künstliche Intelligenz beinhalte in der Eignungsdiagnostik aussichtsreiche Möglichkeiten, berge aber auch Gefahren. Etwa solche der Diskriminierung, wenn gängige Vorurteile aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Alter oder Lebensform einprogrammiert würden. Dies gelte es in der Norm zu berücksichtigen. «Aus meiner Sicht sollten wir darauf bestehen, dass alle Eignungsbeurteilungen ausschliesslich von Menschen verantwortet werden müssen und die Fachleute die zugrundeliegenden Algorithmen und Daten zumindest im Grundsatz verstehen.» Konkret ist für die Berufszertifizierung ein zweiteiliges Prüfungsverfahren in Planung mit einem theoretischen und einem praktischen Teil, die aus Multiple-Choice-Fachfragen und einer Fallbesprechung bestehen. Die Gebühren für die periodische Zertifizierung würden nach seiner Vorstellung unter 1000 Franken liegen. Erste Hochschulen aus der Deutsch- und Westschweiz hätten bei der FSP bereits ihr Interesse angemeldet, um bei der Entwicklung wissenschaftlich fundierter Tests mitzuwirken sowie als spätere Prüfungsstelle zu agieren. In der Arbeitsgruppe als SNV-Mitglieder offiziell mit an Bord sind aktuell die Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW.

«Wir nehmen die Norm nicht als Konkurrenz wahr.»

Nadine Eggimann
Leiterin Kommunikation, Swiss Assessment

Swiss Assessment sieht keine Konkurrenzgefahr

Offiziell nicht in der Arbeitsgruppe vertreten ist der Verein Swiss Assessment, weil er über keine SNV-Mitgliedschaft verfügt. Die Branchenvereinigung mit rund 90 Assessment-Anbietern verfügt mit einer SQS-Zertifizierung jedoch bereits über ein Qualitätslabel, wofür sich 23 der angeschlossenen Mitgliederfirmen auditieren lassen. Für die Leiterin Kommunikation Nadine Eggimann Zanetti erwächst aus der geplanten Norm und Zertifizierung keine Konkurrenz. Swiss Assessment sei bereits zu Beginn des Projekts seitens FSP in die Ausarbeitung der Überlegungen einbezogen worden: «Primär im Fokus stand dabei der Anspruch, Doppelspurigkeiten zu vermeiden und die bereits bestehende SQS-Zertifizierung von unserer Seite nicht zu untergraben.» Die Schweizer Norm wurde deshalb gegenüber dem deutschen Vorbild adaptiert. 

Der Hauptunterschied besteht darin, dass bei der geplanten Norm ein Personenzertifikat zur Eignungsdiagnostik vergeben werden soll, während bei Swiss Assessment ein Organisationszertifikat besteht, das sich massgeschneidert auf die Assessment-Center-Methode bezieht. «Entsprechend nehmen wir das Vorhaben nicht als konkurrenzierende Massnahme wahr, sondern sehen der neuen Norm als Möglichkeit entgegen, die Qualitätssicherung im allgemeinen Bereich der Eignungsdiagnostik zu stärken.»

Neue Schweizer Norm für Eignungsdiagnostik

Die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP lancierte 2021 die Erarbeitung einer Normengrundlage, die sich aktuell in der Vernehmlassung befindet. 2024 wird die Schweizer Norm SN 33430 Anforderung an berufsbezogene Eignungsdiagnostik offiziell in Kraft treten. Darauf basierend soll für HR-Fachleute eine Zertifikation mit der geschützten Berufsbezeichnung Eignungsdiagnostikerin oder Eignungsdiagnostiker entstehen. Als SNV-Mitglieder mit an Bord sind zwei Hochschulen, drei Verbände und ein Privatunternehmen:

  • Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
  • Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW
  • Schweizerische Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie sgaop
  • Schweizerische Gesellschaft für Laufbahn- und Personalpsychologie SGLP
  • Schweizerisches Dienstleistungszentrum Berufsbildung SDBB
  • Aequivalent SA

Unabhängige Qualitätsinstanzen

Fragt man den promovierten Organisationspsychologen Dr. Silvan Winkler, der beim Personalberatungsunternehmen Jörg Lienert AG den Geschäftsbereich Diagnostik & Projekte verantwortet und auf diesem Feld seit vielen Jahren als Berater und Dozent unterwegs ist, nach den wichtigsten Qualitätsmerkmalen seriöser Eignungsdiagnostik, hebt er drei Faktoren hervor: «Meines Erachtens sind die Anwendung wissenschaftlich überprüfbarer Methoden wie Intelligenztests, fachlich qualifizierte Assessierende und eine fundierte Anforderungsanalyse zentrale Punkte, die unabdingbar sind.» Entsprechend sollte die Qualitätssicherung auf drei Ebenen stattfinden. Die erste betreffe die verwendeten Instrumente: «Hier leisten Universitäten wichtige Grundlagenforschung und seriöse Anbieter sind in der Regel in der Lage und willens, die psychometrischen Gütekriterien ihrer Instrumente offenzulegen.» 

«Eine Norm steigert die Qualität der Personal­entscheidungen.»

Silvan Winkler
Leiter Diagnostik & Projekte, Jörg Lienert AG

Als zweite Ebene nennt Winkler die Assessment-Methode und die damit verbundenen Prozesse: «Hier sind die Standards von Swiss Assessment massgebend, zu denen auch die Schulung und Qualifizierung der Beobachtenden gehört.» Als dritte Ebene verweist er auf die Anwenderinnen der Methoden und Verfahren: «Wenn durch eine zusätzliche Norm die Anforderungen an Assessierende und damit letztlich die Qualität der Personalentscheidungen gesteigert wird, dann ist das sicherlich ein lohnenswerter Vorstoss. Dass diese drei qualitätssichernden Instanzen voneinander getrennt sind, erachte ich im Sinne der Unabhängigkeit als Vorteil.»

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