Gesundheitsförderung: Cheesecake oder Apfel?

Montag, 28. Februar 2022 - Karen Heidl
Treppe oder Rolltreppe? Wären Menschen vernünftig, würden sich diese Fragen kaum stellen. Prävention wäre eine Sache der besseren Argumente. Warum Rolltreppe und Cheesecake gute Vorsätze ausbremsen und wie Nudging-Techniken helfen können, erläuterten Experten anlässlich der 23. Nationalen Gesundheitsförderungs-Konferenz.

Wie entscheiden Menschen und wie lassen sie sich dabei beeinflussen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Verhaltensforschung schon lange. Viele Erkenntnisse daraus sind beispielsweise eingeflossen in die Art und Weise, wie man in Geschäften Waren präsentiert oder wie Konsumenten mittels Marketingkampagnen von Produkten überzeugt werden sollen.

Die Herbeiführung von Konsumveränderungen ist keine einfache Aufgabe und steht im Zusammenhang mit Anreizen. Diese können sich aus unterschiedlichen Motiven speisen: Statusgewinn, Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, Nutzen usw. Diese Dualität aus Anreiz und – häufig unterschwelligem – Produktversprechen ist das Handwerkszeug des Marketings, das Einstellungen von Menschen manipuliert.

Eine Technik der Einflussnahme ist das sogenannte Nudging (engl. für Anstubsen). Dabei sollen Menschen mit indirekten, sich wiederholenden Anreizen zum gewünschten Verhalten animiert werden. Das basiert auf psychologischen Mechanismen, ist subtil und schränkt die freie Wahl nicht ein. Ein Beispiel aus der Gastronomie: Platziert man beispielsweise die Obstschale im Kantinentresen auf Augenhöhe und lässt den Cheesecake in die unteren Regionen der Auslage verschwinden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass zum Obst gegriffen wird. Ein nachvollziehbares Verhalten: Was im Fokus ist, erhält mehr Aufmerksamkeit (Salienz-Effekt). Oder: Ein Abfalleimer, der «danke» sagt, animiert eher zu dessen Benutzung als das herkömmliche, stumme Modell (weitere Beispiele siehe Kasten).

Anders ist dies allerdings mit belehrenden Aufklärungskampagnen, wie sie von Zigarettenschachteln bekannt sind: Raucher lassen sich von den wiederholt präsentierten Schreckensbildern verkrebster Lungen nicht abschrecken. Der Lustgewinn aus dem Rauchen überwiegt eine rationale Einsicht über die mögliche Gesundheitsgefährdung. Schnell sind dann Gegenargumente aus der Schublade gezogen, so wird beispielsweise an den deutschen Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt erinnert, der auch im Alter von 90 Jahren noch munter in Talkshows die Fernsehstudios vernebelte. Dieses Verhalten ist rational nicht nachvollziehbar, aber höchst menschlich, wie Prof. Lutz Jäncke, Neurologe an der Universität Zürich, in seinem Referat «Ist das Hirn vernünftig?» darstellte.

Ist das Hirn vernünftig?

Das menschliche Gehirn verbraucht im Ruhezustand einen Fünftel der gesamten Körperenergie. Der Grund liegt darin, dass es auch dann beschäftigt ist. «Das Gehirn ist eine Vorhersage- und Interpretationsmaschine. Es hasst Chaos», sagte Jäncke. Deshalb versuche das Gehirn permanent, ein konstantes Weltbild zu erzeugen.

Es gibt dabei zwei grundsätzliche Verhaltensmodi, zwischen denen es hin- und herschwankt: das Unbewusste und das Bewusste. Die Hirnaktivitäten sind dabei bis zu 95% mit nicht bewussten psychologischen Phänomenen verbunden.

Das Unbewusste versucht, die Welt zu interpretieren, um ein konsistentes Weltbild zu generieren, an dem sich der Mensch orientieren kann. «Dies betrifft nicht nur Emotionen, sondern auch Entscheidungen», führte Jäncke weiter aus. «Diese werden zum grossen Teil auf Basis unbewusster Entscheidungsmodelle herbeigeführt, die sich im Menschen etablieren.»

Das seit der Aufklärung bestehende Selbstbild der Menschheit, dass Menschen rationale Wesen seien, könne die Hirnforschung nicht bestätigen.

«Die unbewusst arbeitenden Informationen sind nicht einfach emotionale Rudimente einer atavistischen Evolution, sondern sie basieren auf individueller Erfahrung», konkretisierte Jäncke die Feststellung. Das, was sich durch Erfahrung, ständige Präsentation und Nutzung im Gehirn wiederholt und eingebrannt habe, entfalte sich unbewusst. Diejenigen Denkprozesse, die immer wieder durchgeführt werden, manifestieren sich, das Unbewusste wird durch Erfahrung massiv beeinflusst und generiert dann vorprogrammierte Verhaltens- und Interpretationsmuster.

Oft kollidieren das Bewusste und Unbewusste miteinander, wobei sich das Unbewusste häufig durchsetze, weil es evolutionsbiologisch von grösserer Bedeutung sei. Dasjenige, was häufig getan und gedacht wurde, erwies sich nämlich für das damalige Überleben als wichtiger, als dasjenige, das man nur einmal bewusst gedacht oder getan hat.

Kognitive Dissonanz vermeiden macht erfinderisch

Dies sei der Grund, so Jäncke, warum man sich häufig auf unbewusste Mechanismen verlässt. So entstehen bei Menschen auch Präferenzen wie beispielsweise die für Kunst, Kultur, andere Menschen oder Nahrungsmittel. Diese Vorlieben sind individuell durch Erfahrung im Gehirn verankert.

Präferenzen lassen sich mithilfe von bildgebenden Verfahren messen. Die Hirngebiete, die mit Emotionen und Gedächtnis zu tun haben, zeigen beispielsweise bei Präsentation eines Schokoriegels Aktivierungen. Gespeicherte Informationen werden aus dem Gedächtnis abgerufen und aktivieren Emotionen. Diese Aktivierungen sind keine bewussten Prozesse. Sie beeinflussen aber das Verhalten.

«Menschen sind Weltmeister im Interpretieren», so Jäncke. Dabei streben Menschen nach Übereinstimmung zwischen Handeln und Absicht. Wenn diese Übereinstimmung minimal oder nicht vorhanden ist, dann suchen Menschen nach Rechtfertigung. Dieses Phänomen heisst kognitive Dissonanz. Als Beispiel führte Jäncke das Rauchen an. Ein Raucher, der nicht aufhören will, findet Gründe, dies nicht zu tun. Dieses Dissonanzgefühl kann nur entstehen, wenn man glaubt, ein System unter Kontrolle zu haben und Entscheidungen aus freiem Willen zu fällen: ein Trick des Bewusstseins.

Das Gehirn sei bei Selbstrechtfertigungen sehr erfinderisch, egal ob es um Rauchen, Alkoholkonsum oder Impfverweigerung geht, bescheinigte Jäncke der Menschheit.

Knowing-Doing-Dissoziation

Dieses Phänomen des Bewussten und Unbewussten sei in der Neuropsychologie und in der klinischen Neurologie schon lange bekannt, führte Jäncke weiter aus. Es beschreibt die Diskrepanz zwischen Wissen und tatsächlichem Handeln. Das zeigt sich beispielsweise besonders deutlich bei verhaltensauffälligen Personen wie Rasern. Zum Tragen kommt dabei eine Disbalance zwischen sogenannten Bottom-up- und Top-Down-Aktivierungen.

Die Bottom-up-Aktivierungen kommen aus dem limbischen System mit dem Emotionszentrum und werden von unbewussten Informationen beeinflusst, die normalerweise top-down gegenreguliert werden vom Frontalcortex, dem Stirnhirn. Manchmal funktioniere dies eben nicht.

Abschliessend appellierte Jäncke an die Vernunft: Man müsse letztlich Selbstdisziplin aufbringen und mit psychischem Aufwand Veränderungen herbeiführen. Verhaltensänderungen seien langwierige Prozesse, die durch ständige Wiederholung gefördert würden. Unbewusste Konditionierungsprozesse, wie sie im Marketing verwendet werden, können ebenfalls dazu genutzt werden.

Nudging als Lösung?

Konditionierungen, also Manipulationen, werfen allerdings ethische Fragestellungen auf, die in der Veranstaltung wiederkehrend thematisiert wurden. Dr. Julien Intartaglia, Professor und Dekan für Marketing an der Fachhochschule Neuenburg, sah in seinem Vortrag, der sich ebenfalls der steuernden Rolle des Unbewussten widmete, im Nudging eine mögliche Lösung, denn die Menschen behielten dabei ihre Wahlfreiheit.

Beispiele für Nudging im betrieblichen Gesundheitsmanagement

Ida Ott von der Fachhochschule Nordwestschweiz führte in ihrem Vortrag anhand einer Reihe von Beispielen aus, wie mithilfe von Nudging-Techniken betriebliche Gesundheitsförderungsmassnahmen unterstützt werden können.

Wettbewerb: Ein Ansatz speist sich aus der Spieltheorie. Wettbewerbe – beispielsweise im Schrittezählen – unterstützen die Teilnahme an Gesundheitskampagnen. Die Siegerin gewinnt einen ausgelobten Preis und geniesst die Anerkennung.

Voreinstellungen ändern: Ott stellte eine Studie vor, die zeigt, dass sich mit der Veränderung der voreingestellten Arbeitstischhöhe vom Sitzmodus in den Stehmodus eine nachhaltige und signifikante Verhaltensänderung erzielen liess. Ott nannte als weiteres Beispiel Einladungen zu Gesundheitsveranstaltungen, bei denen sich die Teilnehmerinnen standardmässig ab- statt anmelden müssen. Dies erhöhe die Teilnehmerquote deutlich. Schliesslich empfahl sie, die Standarddauer von Meetings zu kürzen.

Aufmerksamkeit erregen: Studien zeigen, dass aufmerksamkeitserregende Plakatierungen mit Postern oder Aufklebern an Treppen Menschen dazu bewegen, diese statt Lift oder Rolltreppen auch zu benutzen. Dabei sei es wichtig, führte Ott weiter aus, wo die Plakatierungen angebracht würden. Das Nudging müsse an dem Ort, an dem die Entscheidung für oder gegen die Nutzung der Treppen gefällt wird, stattfinden und dürfe dort auch nicht mit anderen Botschaften konkurrieren. Es gebe aber weitere Gründe, warum solche Aktionen floppen könnten: Beispielsweise, wenn die offizielle Arbeitszeit erst nach Benutzung der Treppe beim Einschalten des Computers beginne oder das Treppenhaus so versteckt liege, dass Aufkleber gar nicht bemerkt würden. Wichtig für die Verifikation von Hypothesen über die Entscheidungsfindung seien Gespräche mit der Zielgruppe.

Priming: Ott wies darauf hin, dass Voreinstellungen durch Vorbildhandeln und -kommunikation beeinflusst werden können (sogenanntes Priming). Gesundheitsförderliche Routinen und wiederholte Thematisierung von Gesundheitsaspekten beeinflussen Menschen langfristig.

Entwicklung eines Nudging-Konzepts

Die Referentin empfahl einen schrittweisen Prozess (siehe Grafik zum Nudging-Konzept) für die Entwicklung eines Nudging-Konzepts, beginnend mit der Zielbestimmung. Im zweiten Schritt müsse die Entscheidungsfindung der Zielgruppe analysiert werden, möglichst unter Einbeziehung der Zielgruppe. Für die Gestaltung konkreter Nudges gibt der iga.Report 38 (herausgegeben von Initiative Gesundheit und Arbeit iga: iga-info.de) aufschlussreiche Hinweise. Schritt vier besteht
in der Wirksamkeitsüberprüfung der Intervention beispielsweise anhand von Messkennzahlen oder Befragungen der Zielgruppe. (he)

Der Artikel basiert auf Aufzeichnungen von Vorträgen zur 23. Nationalen Gesundheitsförderungs-Konferenz, die am 27. Januar 2022 von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz virtuell durchgeführt wurde.

Take-Aways

  • Das Gehirn agiert überwiegend unbewusst.
  • Die Entscheidungsstrategien des Gehirns sind ebenfalls häufig unbewusst und bestimmen die Präferenzen.
  • Zu 95% ist die hirnphysiologische Aktivität diesen unbewussten Phänomenen zuzuordnen.
  • Die Lösung der kognitiven Dissonanz bestimmt das Verhalten des Menschen.
  • Verhaltensänderungen sind Langzeitprojekte und basieren auf vielen Wiederholungen.
  • Verhaltensorientierte Nudging-Techniken können die Kommunikation, die zu Veränderungen führen soll, unterstützen. Mehr dazu im iga.Report 38, iga-info.de.

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