Wir werden nicht andere, wenn wir pensioniert sind

Montag, 11. September 2023 - Claudio Zemp
70 sei das neue 60 und das Rentenalter obsolet, also abzuschaffen. Das lässt sich – etwas polemisch – aus aktueller Forschung ableiten.

Elisabeth Michel-Alder
ist Unternehmensberaterin, HR-Expertin, Coach und Stiftungs­rätin. Sie studierte in England und in ­Zürich Sozialwissenschaften und Geschichte und leitet das Projekt «neues alter». Das Projekt untersucht die Rahmenbedingungen für ein engagiertes, langes Leben und kooperiert mit der ETH und der Universität Zürich.

neuesalter.ch

Frau Michel-Alder, Sie sind im AHV-Alter. Was motiviert Sie persönlich, über Ihr Pensionsalter hinaus weiterhin als HR-Expertin, Unternehmensberaterin, Coach und in der Altersforschung zu arbeiten?

Die Frage nach der Motivation ist problematisch. Direkt sind Motivationen nicht zugänglich. Sehr viele Leute sagen, was sozial akzeptiert ist und bewusst nicht, was dahintersteckt. Mich freut es jeden Tag, zur Arbeit zu gehen. Es befriedigt meine Neugier, ich möchte die Welt besser verstehen. Ich sehe es als enorme Chance, dem Thema des Alterns und dem demografischen Wandel auf den Grund zu gehen. Zudem sind wir ein tolles Team. Mit anderen zusammen die Welt neu zu entdecken, macht Spass.

Warum haben Sie das Lebensalter 70 als das neue 60 ausgerufen?

Ich komme auf die zehn Jahre Differenz, weil die Bevölkerung seit 1975 im Durchschnitt zehn Jahre länger fit und munter bleibt. Wir haben eine viel längere Lebenserwartung, werden viel älter und bleiben länger jung. Das gebrechliche, unterstützungsbedürftige Alter – die «letzten sieben Jahre» – bleibt zwar. Es startet aber viel später; wir haben viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten als unsere Eltern und Grosseltern.

Gibt es gewisse Berufe oder Branchen, in denen es eher gelingt, lange aktiv zu bleiben?

Nein. Nach Branchen oder Berufen zu unterscheiden, ist irreführend. Zu meinen, ein Beruf beinhalte auch die Qualität des Lebens bis 100, ist daneben. Unterschätzt wird, was alles ausserhalb des Berufs passiert und die Menschen prägt: Soziale Einbettung, Bildung, kritische Lebensereignisse, materielle Sorgen, private Belastungen.

Was sind gemäss Ihrer Forschung die wichtigsten Voraussetzungen, um länger erwerbstätig zu bleiben?

Es braucht erstens eine Tätigkeit, die zur Person passt. Also etwas, das sie gut kann und das ihr Resonanz ­verschafft. Wir sind soziale Wesen, wir brauchen ein
Echo. Günstig ist es zweitens, wenn wir unsere Tätigkeitsfelder in der Mitte des Lebens ein zweites Mal evaluieren. Denn eine solche zweite Wahl führt oft zu stimmigeren ­Ergebnissen. Wir kennen uns besser und werden weniger beeinflusst von Lehrern und Peergroups. Mit einer Art ­Neustart steigt die Chance, motiviert über die Klippe
der Pensionierung hinaus tätig zu bleiben. Es braucht Selbstvertrauen, Initiative und Engagement, was oft nach einem beruflichen Sinkflug jenseits von 55 fehlt. Drittens müssen reife Erwerbstätige aber auch schlicht institutionell Gelegenheit haben, ihre Tätigkeit weiter auszuführen. Selbständigkeit ist nur für wenige eine Option. Arbeitsverträge und Aufträge sind dafür die Voraussetzung; das automatische Ende von Arbeitsverhältnissen mit 65 ist ein Problem.

Welche Faktoren sind hinderlich für eine lange Erwerbstätigkeit?

Überholte Altersstereotype. Die Vorstellung, dass man ab Mitte 50 geistig und körperlich abbaue. Sich dann ausgerechnet am Ende des Sinkflugs neu erfinden zu wollen, funktioniert selten. Man traut sich weniger zu, verliert an Initiative und konsumiert eher, als dass man produziert. Problematisch ist auch die Hoffnung auf ein Freiheitsparadies. Wir werden mit mehr Freizeit nicht schlagartig andere im Pensionsalter.

Müsste entsprechend das Rentenalter steigen?

Nein. Was nicht mehr funktioniert, ist der klassische Dreitakt des Lebensentwurfs, den wir uns ausgedacht haben. Seit Ende des 19. Jahrhunderts haben wir die Kinder der Arbeitswelt entzogen und bis zum Ende der Berufsausbildung in die Schule geschickt. Danach wurde en bloc gearbeitet. Mit 65 (oder 64) galt es, die Hände in den Schoss zu legen und über das Sterben nachzudenken. Dieser Dreitakt hatte vielleicht in der Industriegesellschaft eine gewisse Berechtigung. Heute ist er mit der längeren Lebenserwartung überholt.

Warum?

Zielführender als die Renten-Guillotine für alle wäre, ohne begrenzte Arbeitsverträge abgestimmt auf die persönlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten positive, offene Perspektiven für stimmige Erwerbstätigkeit zu öffnen. Dafür braucht es eine Dynamisierung der zweiten Hälfte des Berufslebens mit zusätzlichem Kompetenzerwerb, was Erwerbstätige und Arbeitgebende fordert. Wir wachsen an Herausforderungen und nicht auf bequemen Stühlen. Die Gesellschaft braucht das Potenzial der Älteren.

Was halten Sie von der Idee, das Rentenalter nach einer fixen Anzahl an Jahren der Erwerbstätigkeit festzulegen?

Ich bin überzeugt, dass wir grundsätzlich flexible Entwürfe der Erwerbstätigkeit brauchen. Junge Männer wollen etwa Teilzeit arbeiten, um auch ein Stück ihrer Care-Arbeit wahrzunehmen, später treten sie wieder kräftiger in die Pedale. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für bestimmte Lebenswege besser ist, bereits vor 60 auszusteigen. Auch dafür sollte es Lösungen geben. Doch die Vorstellung, körperliche Arbeit mache die Menschen generell kaputt, ist überholt. Das zeigt etwa die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung, wonach körperlich geforderte Berufsgruppen wie Gärtner und Landwirte am längsten arbeitstätig sind. In Berufsfeldern wie Polizei, Schule oder Pflege ist die psychosoziale Belastung gross, aber längst nicht für alle. Umso wichtiger ist es, für sämtliche Erwerbstätigen die Aufgaben je nach Erfahrung und Belastbarkeit abzustimmen und den zeitlichen Einsatz flexibel zu gestalten, bis der Funke erloschen ist. Das verspricht gesunde Langlebigkeit.

Liesse sich der Fachkräftemangel entschärfen, wenn alle etwas länger arbeiten würden?

Nein, höchstens mildern. Der demografische Wandel ist viel umfassender. Heute treten geburtenschwächere Jahrgänge ins Arbeitsleben ein als die, die ausscheiden. Auch wenn der technologische Wandel das Problem etwas abdämpfen kann, bleiben offene Stellen, weil gleichzeitig personengebundene Dienstleistungen explodieren und wir die Coiffeuse, die Kleinkinderzieherin und den Kellner nicht mit künstlicher Intelligenz substituieren können. Für Unterbrüche der Erwerbstätigkeit und Neuqualifizierungen in neuen Lebensentwürfen braucht es Ressourcen und gerechte Lösungen. Denkbar sind etwa Weiterentwicklungsfonds, die von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und vom Staat gemeinsam geäufnet werden. Und Rentenansprüche fürs hohe Alter sollte man aufgrund eines differenzierten Punktesystems berechnen.

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